Mein skandaloeser Viscount
Empörung und verfasste zahllose schriftliche Eingaben an sämtliche Behörden und Ministerien der habsburgischen Regierung in Venedig. Man riet ihm, sich an das britische Königshaus zu wenden oder besser noch an den Vatikan, da es sich in diesem Fall um ein Vergehen handle, das in den Zuständigkeitsbereich der katholischen Kirche falle. Grayson war schließlich gezwungen, die Fakten zu akzeptieren, die ich längst akzeptiert hatte.“
Victoria schüttelte den Kopf, richtete sich halb auf, um ihn anschauen zu können. „Warum hast du Grayson verboten, mir davon zu berichten? Warum?“
Remington legte seine große Hand an ihre Wange. „Teilweise aus Scham. Ich hatte meine Manneswürde und Ehre verloren, weil ich so töricht war, mich mit Betrügern einzulassen. Der zweite und wichtigere Grund aber war meine Befürchtung, du könntest das nächste Schiff nach Venedig nehmen und mich suchen. Dadurch hättest du dich in Lebensgefahr gebracht, und dieser Gedanke war mir unerträglich.“
„Du hättest es mir trotzdem sagen müssen“, flüsterte sie.
„Mittlerweile bedauere ich es auch. Aber das ist ja nun nicht mehr zu ändern.“ Er nahm die Hand von ihrer Wange und streichelte ihren Arm. Ein Zittern durchflog sie. Er steckte die Hand unter die Decke und strich ihr über die Taille. Bedächtig und sinnlich ließ er den Daumen kreisen, suchte eine weiche Stelle unter den Korsettstäbchen.
Victoria rauschte das Blut in den Ohren, sie spürte Verlangen und Erwartung in seiner Berührung, und das Herz wurde ihr schwer. War sie bereit, ihm die Frau zu sein, die er verdiente? Könnte sie seine Leidenschaft erwidern? Seine Liebe? Sie fürchtete, ihn zu enttäuschen. „Du musst schlafen.“
Er zog seine Hand zurück und nickte. „Ja. Gute Nacht.“
„Gute Nacht.“ Sie legte sich wieder hin und betrachtete gedankenverloren die Lampen, deren Schein langsam schwächer wurde.
Nur das Knarren der Holzbalken und das Rauschen der Wellen am Schiffsrumpf waren zu hören, sonst war es still, sehr still.
Zu still.
„Es ist viel zu still“, erklärte Remington, als läse er ihre Gedanken. „Trotz des Rauschens.“
Sie lächelte. „Willst du ein Schlaflied hören, Mylord?“
„Singst du mir eines vor?“
„Nein.“
„Und wieso nicht? Ich habe dich noch nie singen gehört.“
„Wenn ich singe, findest du gar keinen Schlaf.“
Er lachte leise. „Das soll mir eine Warnung sein. Dann sag mir ein Gedicht auf.“
„Welches Gedicht?“
„Irgendeins. Nur nichts Trauriges.“
„Ich kenne nur traurige Gedichte.“
„Ach, komm schon. Du kennst mit Sicherheit einen lustigen Vers.“
„Nein. Mein Vater bevorzugte Poesie, mit der er etwas anfangen konnte. Mit Leiden. Tod. Verlust.“ Sie schwieg und dachte an das Buch, in dem Remington gelesen hatte. Mit Sicherheit kein Gedichtband. Sie hatte ihr Benimmbuch auf den ersten Blick erkannt, wobei ihr schleierhaft war, wieso er sein Interesse daran leugnete, und wie er eigentlich an das Buch gekommen war. „Was ist mit dem Gedichtband, in dem du vorhin gelesen hast? Lohnt es sich, einen Blick hineinzuwerfen? Sollte ich es lesen?“
Er schwieg einen Moment. „Victoria?“
„Ja?“, fragte sie unschuldig.
„Das war kein Gedichtband.“
„Nein?“
„Nein. Es war ehrlich gestanden dein Benimmbuch.“
„Aha. Das Benimmbuch, von dem du behauptet hast, es nicht zu besitzen.“
„Ja.“
„Und hast du es gelesen?“
„Ja.“
„Warum?“
„Nun ja … ich … nicht weil ich die Anstandsregeln für eine Dame so spannend fände, nur weil … es dir gehört. Und weil du meinen Namen so oft hineingekritzelt hast. Ich blättere gern darin, weil ich weiß, dass du es einst mit liebevollen Gedanken an mich in der Hand gehalten hast, und weil ich mich bemühe, diese Liebe wiederzugewinnen.“
Musste er sie an all die endlosen Stunden erinnern, in denen sie an ihn gedacht und sich die Finger mit Tinte bekleckst hatte, wenn sie seinen Namen schrieb? „Und wie bist du daran gekommen? Ich weiß genau, dass ich es weggeworfen habe.“
„Dein Vater hat es gefunden und mir geschenkt. Er hat sogar eine Widmung für mich hineingeschrieben, in der er sich auf deine Mutter bezieht. Soll ich sie dir vorlesen?“
Sie schluckte und schüttelte den Kopf. „Nein. Nicht jetzt.“ Sie wollte nicht an den Tod oder ihren Vater und ihre Mutter denken. Nur an das Hier und Jetzt. Nur an Remington.
Er seufzte. „Wie kannst du erwarten, dass ich Schlaf finde, Victoria, wenn
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