Mein Sommer nebenan (German Edition)
aus dem Zauberer von Oz , wo die Farben ausgebleicht sind und einen Grauschleier haben.
Ich verdränge jeden Gedanken, jede Erinnerung an Jase, aber er ist überall. Gestern habe ich ein T-Shirt von ihm unter meinem Bett gefunden. Ich stand da, hielt es in der Hand und habe mich mit erstauntem Entsetzen gefragt, warum ich es nicht vorher bemerkt habe – oder Mom. Im ersten Moment habe ich es in die hinterste Ecke meiner Kommodenschublade gestopft. Dann habe ich es wieder rausgeholt und darin geschlafen.
Sechsundvierzigstes Kapitel
I ch gehe gerade unsere Einfahrt hoch – einer der seltenen Momente, in denen ich mal den Fuß vor die Tür gesetzt habe –, als jemand mir von hinten seine Hand auf die Schulter legt. Es ist Tim.
»Was läuft hier, Sammy?«, fragt er und greift nach meiner Hand.
»Lass mich in Ruhe.« Ich reiße mich von ihm los.
»Den Teufel werde ich. Zieh nicht die Eisköniginnennummer mit mir ab, Samantha. Du hast Jase ohne eine Erklärung abserviert. Als ich Nan gefragt habe, was los ist, hat sie bloß mit den Achseln gezuckt und gesagt, dass ihr nicht mehr miteinander klarkommt. Und du bist total abgemagert und blass und siehst scheiße aus. Zur Hölle, Sammy, was ist passiert?«
Ich hole meinen Schlüssel heraus, um aufzuschließen. Trotz der Hitze fühlt er sich in meiner Hand eiskalt an. »Ich habe keine Lust, mit dir darüber zu reden, Tim. Das geht dich nichts an.«
»Und ob mich das was angeht. Jase ist mein Freund. Du hast ihn in mein Leben gebracht. Dank ihm hat sich bei mir verdammt viel getan und zum Besseren gewendet. Und ich werde nicht einfach tatenlos dastehen und zuschauen, wie du ihn wie Dreck behandelst. Er hat auch so schon genug am Hals, mit dem er fertigwerden muss.«
Ich öffne die Tür und lasse meine Tasche fallen, die sich anfühlt, als wäre sie mit Blei gefüllt. Außerdem habe ich hämmernde Kopfschmerzen. Aber Tim kennt keine Gnade, natürlich nicht. Er folgt mir ins Haus und knallt die Tür hinter uns zu.
»Ich kann nicht mit dir reden.«
»In Ordnung. Dann rede mit Jase.«
Ich drehe mich zu ihm um und sehe ihn an. Selbst diese kleine Bewegung ist mühsam und schmerzhaft. Vielleicht versteinere ich langsam. Aber dann würde nicht alles so wehtun, oder?
Tim schaut mich an, und die Wut in seinem Gesicht verwandelt sich in Sorge.
»Bitte, Sammy. Ich kenne dich. Das bist nicht du. Durchgeknallte, machtgeile Mädchen verhalten sich so. Arschlöcher wie ich verhalten sich so. Aber nicht du. Das ist einfach nicht deine Art und ist es nie gewesen. Du und Jase … das mit euch beiden, das ist was Ernstes gewesen, was ganz Großes. So was gibt man nicht einfach auf. Was verdammt noch mal ist passiert?«
»Ich kann nicht mit dir darüber reden«, wiederhole ich.
Seine kühlen grauen Augen betrachten mich prüfend. »Aber mit irgendjemandem musst du reden.« Seine Stimme wird weicher. »Wenn du nicht mit Jase redest und nicht mit Nan – und ich schätze mal, mit deiner Mom erst recht nicht, mit wem dann, Sammy?«
Plötzlich kommen mir die Tränen. Ich habe die ganze Zeit über kein einziges Mal geweint, und jetzt kann ich nicht mehr damit aufhören. Tim schaut sich leicht panisch in der Küche um, als hoffte er, es würde irgendjemand kommen, der ihn vor diesem schluchzenden Mädchen retten kann. Ich rutsche langsam an der Wand hinunter und weine und weine und weine.
»Oh Mann … verfluchte Scheiße. Hör bitte auf zu heulen, Sammy. So schlimm kann es nicht sein. Was auch immer los ist … es gibt eine Lösung dafür.« Er reißt ein paar Blatt Küchenpapier vom Rollenhalter aus Porzellan ab und reicht sie mir. »Hier, putz dir die Nase. Nichts ist so schlimm, dass man nicht irgendwas tun könnte. Man kriegt alles wieder hin. Sogar mich. Stell dir vor, ich habe mich schon an einer Schule angemeldet, um doch noch den Highschool-Abschluss zu machen, und ziehe bald von zu Hause aus. Mein Freund Connor von den Anonymen Alkoholikern hat über seiner Garage ein Apartment, das er mir überlässt. Endlich muss ich mich nicht mehr mit meinen Alten herumschlagen und kann … Hier, putz dir endlich die Nase.«
Ich greife nach dem kratzigen Papier und schnäuze mich, obwohl ich mir fast sicher bin, dass ich jetzt, wo die Dämme gebrochen sind, nie wieder mit dem Weinen aufhören kann.
»So ist’s brav.« Tim klopft mir unbeholfen auf den Rücken, was sich allerdings eher so anfühlt, als wollte er mir helfen, etwas auszuhusten, was in meinem Hals stecken geblieben ist,
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