Mein Sommer nebenan (German Edition)
schöneren Homestory auf.
Ich werde aus dem Schlaf gerissen, als Mom mich an der Schulter rüttelt. »Du kannst nicht den ganzen Tag verschlafen, Schatz. Heute unternehmen wir was!«
Sie sieht aus wie immer: die Haare zu einem perfekten Chignon hochgesteckt, dezentes Make-up, der Blick ihrer blauen Augen ruhig und beherrscht. Ich muss daran denken, wie ich mich an dem Morgen, nachdem ich das erste Mal mit Jase geschlafen habe, im Spiegel betrachtet habe. Wenn etwas wirklich Einschneidendes im Leben eines Menschen passiert, müsste sich das dann nicht in seinem Gesicht widerspiegeln? In dem von Mom tut es das jedenfalls nicht.
»Ich habe mir den ganzen Tag freigenommen.« Jetzt reibt sie mir über den Rücken. »In letzter Zeit habe ich nur noch gearbeitet und mich viel zu wenig um dich gekümmert. Deswegen habe ich mir überlegt, wir tun uns mal wieder etwas Gutes, gehen in ein Day Spa, lassen uns mit einer Gesichtsbehandlung verwöhnen und …«
» Gesichtsbehandlung? «
Beim scharfen Klang meiner Stimme zuckt sie leicht zusammen, fährt dann jedoch in besänftigendem Tonfall fort: »Weißt du nicht mehr? Die haben wir uns doch sonst immer am ersten Ferientag gegönnt. Das war so etwas wie eine Tradition und dieses Jahr habe ich sie einfach ausfallen lassen. Ich dachte, dass ich es vielleicht wiedergutmachen kann, indem wir endlich mal wieder einen ganzen Tag gemeinsam verbringen und …«
Ich setze mich abrupt im Bett auf. »Denkst du wirklich, dass es so funktioniert? Ich bin nicht diejenige, bei der du etwas wiedergutzumachen hast.«
Sie geht ans Fenster und sieht zu den Garretts rüber. »Hör auf, ständig auf mir herumzuhacken. Das ist nicht fair.«
»Nicht fair, Mom? Erklär mir, warum nicht, vielleicht kann ich dann damit aufhören.« Ich stehe auf und stelle mich neben sie ans Fenster und schaue zum Haus der Garretts hinüber, dem im Garten herumliegenden Spielzeug, den im Pool treibenden Schwimmflügeln, dem Mustang in der Einfahrt.
Ihre Kiefermuskeln spannen sich an. »Na schön, du willst die Wahrheit? Hier ist sie: Ich habe die Zeit, in der du und Tracy klein wart, als sehr anstrengend empfunden. Ich bin nicht wie diese Frau da drüben …« Sie wedelt mit der Hand in Richtung der Garretts. »Ich bin kein Muttertier. Natürlich wollte ich Kinder. Ich war ein Einzelkind und immer allein. Als ich deinen Vater mit seiner großen Familie kennengelernt habe, dachte ich … Aber mir wurde es schon mit einem Kind bald zu viel – die ständige Unordnung, der Windelgestank und die permanente Unruhe. Deinem Vater ging es offenbar ganz ähnlich. Er hat das alles schließlich in seiner Kindheit zur Genüge gehabt. Also ist er, als ich dich erwartete, einfach abgehauen, hat sich aus seiner Verantwortung gestohlen, um wieder frei und unabhängig zu sein, und hat mich mit zwei kleinen Kindern sitzen gelassen. Ich hätte mir zehn Kindermädchen leisten können, hatte aber lediglich eine Haushaltshilfe, die im Übrigen nur unter der Woche kam, weil ich es alleine schaffen und euch trotz allem eine gute Mutter sein wollte. Ich habe diese Zeit irgendwie durchgestanden und jetzt endlich meinen Platz im Leben gefunden.« Sie fasst mich am Arm und schüttelt mich leicht, als wollte sie mich erneut aufwecken. »Willst du wirklich, dass ich das einfach so aufgebe?«
»Aber …«
»Ich habe mir das alles hart erarbeitet, Samantha. Und nur weil ich mich einen ganz kurzen Moment lang habe gehen lassen und unaufmerksam war, soll ich jetzt für den Rest meines Lebens dafür bezahlen?«
Sie schüttelt mich wieder und kommt mir mit ihrem Gesicht so nahe, dass sie meines fast berührt.
»Ist das fair, Samantha? Findest du das wirklich richtig?«
Ich weiß nicht mehr, was richtig ist. Mein Kopf tut weh und in mir drin ist nichts als betäubte Leere. Ich würde gern etwas entgegenhalten, ihr sagen, was an ihrer Argumentation falsch ist, aber es scheint alles so verworren.
Ich beobachte die Garretts nach wie vor und bin erleichtert über jedes noch so kleine Anzeichen dafür, dass sie wieder ein bisschen zur Normalität zurückgefunden haben – Alice, die auf dem Rasen liegt und sich sonnt, oder Duff und Harry, die sich mit Wasserspritzpistolen durch den Garten jagen. Aber ihnen zuzusehen, löst nicht mehr dasselbe Gefühl in mir aus wie früher – da hatte mir die Gewissheit, dass es außer meiner eigenen auch andere Welten gibt, noch Hoffnung gegeben. Jetzt habe ich das Gefühl, in der Verbannung zu leben, im Kansas
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