Mein Sommer nebenan (German Edition)
Zufluchtsstätte. Jase, der mich mühelos einholen könnte, lässt sich zurückfallen, hindert mich nicht daran, die schwere Tür zu öffnen und in die Diele zu stolpern, wo ich mich fallen lasse, auf dem Boden zusammenrolle und mein Gesicht in den Händen vergrabe.
Eigentlich erwarte ich, dass ich für mein Verhalten von irgendjemandem zur Rechenschaft gezogen werde. Dass Alice kommt und mich fertigmacht. Dass Mrs Garrett mich mit Patsy auf der Hüfte in der Einfahrt abpasst und mich wütend zur Rede stellt. Oder dass George plötzlich vor der Tür steht und mich mit großen Augen verwirrt fragt, wo Sailor Moon geblieben ist. Aber nichts davon passiert. Es ist, als wäre ich für sie wie vom Erdboden verschwunden und hätte keinerlei Spuren hinterlassen.
Fünfundvierzigstes Kapitel
I ch bin nicht diejenige, die von einem Auto angefahren wurde. Oder die acht Kinder hat und mit dem neunten schwanger ist. Ich bin nicht Jase, der versucht, alles zusammenzuhalten, und dafür bereit ist, zu verkaufen, was ihn glücklich macht.
Wenn ich morgens aufwache, hasse ich mich so sehr, dass ich mir am liebsten wieder die Decke über den Kopf ziehen will. Ich bin nicht die, der das passiert ist. Im Gegenteil, ich bin ein Mädchen, das ein wohlbehütetes Leben führt und sich um nichts Sorgen machen muss. Und trotzdem schaffe ich es nicht, aufzustehen.
Mom versucht mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Sie bereitet mir meine morgendlichen Smoothies zu, bevor ich es tun kann, stellt mir mit Designernamen bedruckte und mit Post-it-Zetteln versehene edle Tüten aufs Bett – »Habe dieses süße Top gesehen und wusste gleich, dass du einfach großartig darin aussehen wirst« –, verliert kein Wort darüber, dass ich bis mittags im Bett liege, ignoriert meine Einsilbigkeit und redet dafür selbst umso mehr, um die Stille zu füllen. Abends beim Essen unterhalten sie und Clay sich darüber, mir in den nächsten Sommerferien eine Praktikumstelle bei irgendeiner wichtigen Behörde in Washington oder New York zu vermitteln und malen mir die Zukunft in den schillerndsten Farben aus – »Wie wunderbar sich das auf deiner College-Bewerbung machen würde!« –, während ich lustlos in meinem Salat herumstochere.
Weil es mir mittlerweile egal ist, was Mom sagt, kündige ich meinen Rettungsschwimmerjob im B&T. Das Wissen, dass Nan nur ein paar Meter weiter im Souvenirshop steht und ihre Wut und Feindseligkeit durch die Wände zu mir herübersickern, macht mich krank. Außerdem ist es unmöglich, den Pool im Auge zu behalten, wenn ich mich ständig dabei ertappe, wie ich ins Nichts starre.
Im Gegensatz zu Felipe aus dem Breakfast Ahoy reagiert Mr Lennox nicht wütend, sondern versucht mich stattdessen umzustimmen, als ich ihm meine Kündigung und meine gereinigte und ordentlich zusammengefaltete Arbeitskleidung auf den Tisch lege.
»Oh, Ms Reed! Ich …« Er wirft einen Blick aus dem Fenster, holt einmal tief Luft und schließt dann seine Bürotür. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Das kommt jetzt doch recht plötzlich. Und Sie sind sich sicher, dass Sie es sich nicht noch einmal überlegen möchten?«
Unerwartet berührt davon, wie bestürzt er über meine Kündigung ist, sage ich ihm, dass ich nicht anders kann. Mir steigen plötzlich Tränen in die Augen. Er zieht ein seidenes Taschentuch mit Paisley-Muster aus der Innentasche seines Jacketts und reicht es mir. »Sie sind eine meiner besten Angestellten. Ihre Arbeitsmoral ist beispiellos. Ich würde es wirklich außerordentlich bedauern, wenn die Gründe für Ihr Ausscheiden hier bei uns im Club liegen würden.« Er hält kurz inne und räuspert sich. »Ist es der neue Rettungsschwimmer? Hat er sich Ihnen womöglich auf unschickliche Weise genähert?«
Ich bin kurz versucht, in hysterisches Lachen auszubrechen. Aber der Ausdruck in Mr Lennox’ großen braunen Augen, die hinter seiner Brille noch größer wirken, ist ernst und aufrichtig besorgt.
»Gibt es etwas, über das Sie vielleicht sprechen, das Sie sich von der Seele reden möchten?«, fragt er.
Wenn Sie wüssten.
Einen Moment lang ziehe ich ernsthaft in Erwägung, es ihm zu sagen. Ach, wissen Sie, meine Mutter hätte fast den Vater des Jungen getötet, den ich liebe, und jetzt bin ich gezwungen worden, ihm das Herz zu brechen und kann mit niemandem darüber sprechen. Meine beste Freundin hasst mich für etwas, das sie selbst getan hat, und will nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich weiß nicht mehr, was
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