Mein Sommer nebenan (German Edition)
für ein Mensch meine Mutter ist und erkenne mich selbst nicht wieder. Kurz gesagt: Alles ist einfach nur noch schrecklich.
Aber Mr Lennox, der schon völlig außer sich ist, wenn er die genaue Uhrzeit für eine Holzlieferung nicht kennt, damit belasten? Ausgeschlossen.
»Es hat nichts mit meiner Arbeit hier zu tun«, sage ich. »Ich kann nur einfach nicht bleiben.«
Er nickt. »Ich akzeptiere Ihre Kündigung, bedaure Ihr Ausscheiden jedoch zutiefst.«
Ich danke ihm. Als ich mich zum Gehen wende, sagt er: »Ms Reed?«
»Ja?«
»Ich hoffe doch, dass Sie Ihr Schwimmtraining fortsetzen werden. Sie können den Schlüssel behalten. Unser Vereinbarung bleibt weiterhin bestehen.«
»Vielen Dank, Mr Lennox.« Ich weiß diese Geste mehr als zu schätzen. Und dann gehe ich schnell, bevor ich Gefahr laufe, doch noch mehr zu sagen.
Ohne die Frühstücksschichten im Breakfast Ahoy, den Job im Club und das Babysitten bei den Garretts, verschwimmen die Grenzen zwischen Tag und Nacht. Morgens komme ich nicht aus dem Bett, nachts tigere ich ruhelos durchs Haus oder schaue mir im Fernsehen tragische Liebesfilme an, in denen alle noch schlimmer dran sind als ich.
Natürlich habe ich versucht, meine Schwester anzurufen. Sie hat selbst schon etliche Dramen durchlitten, sie kennt Mom und sie kennt mich. Aber es meldet sich nur die Mailbox.
Tracys heisere Stimme ist mir so vertraut und scheint trotzdem Lichtjahre entfernt: »Erwischt!«, sagt sie und lacht. »Oder eben gerade nicht. Ihr wisst, was zu tun ist. Hinterlasst mir eine Nachricht! Vielleicht ruf ich ja sogar zurück.« Ich stelle mir vor, wie sie gerade neben Flip am Strand liegt, mit ihren meerblauen Augen in die Sonne blinzelt und den unbeschwerten Sommer verbringt, von dem sie Mom gesagt hat, dass sie ihn sich verdient hat. Ihr Handy steckt in der Tasche oder ist ausgeschaltet, weil – was soll schon passieren, das ihnen ihre perfekte Ferien verderben könnte? Ich öffne den Mund, um etwas auf die Mailbox zu sprechen, klappe dann aber das Handy zu.
Meine Mutter, die sonst jeden noch so winzigen Fleck auf meiner Kleidung bemerkt hat, mir sofort ansah, wenn ich mal den Conditioner vergessen hatte oder nur einen Hauch von meiner morgendlichen Routine abwich – »Du trinkst doch normalerweise immer einen Smoothie vor der Arbeit, Samantha. Warum isst du auf einmal Toast? Erst kürzlich habe ich gelesen, dass es ein Anzeichen für Drogenmissbrauch sein kann, wenn Jugendliche plötzlich ihre Gewohnheiten ändern« –, bekommt merkwürdigerweise nicht mit, dass in meinem Leben nichts mehr so ist, wie es war. Unter meiner Tür könnten dicke Marihuanaschwaden hervorquellen, sie würde sie nicht sehen. Neuerdings kommuniziert sie mit mir vorzugsweise über eine Flut von Post-its, die überall kleben.
Könntest du bitte mein Seidenkostüm von der Reinigung holen?/Auf der Chaiselongue im Arbeitszimmer sind Flecken, behandle sie mit OxiClean./Komme heute erst spät nach Hause, stell die Alarmanlage an, bevor du schlafen gehst.
Ich habe alle meine Jobs gekündigt und bin zur Einsiedlerin geworden. Und meine Mutter tut so, als würde sie nichts bemerken.
»Ah, da bist du ja!«, ruft Mom gut gelaunt, als ich mich auf ihr – » Samantha, Liebes, kannst du bitte mal kurz runterkommen?« – in die Küche schleppe. »Ich habe diesem reizenden Herrn hier gerade gezeigt, wie ich meine Limonade mache. Kurt, war Ihr Name, richtig?«, fügt Mom an den Mann gewandt hinzu, der an unserer Kücheninsel sitzt und mir jetzt freundlich lächelnd mit dem Zitronenschäler zuwinkt.
»Carl«, erwidert er. Ich kenne ihn. Es ist Mr Agnoli, der für den Stony Bay Bugle fotografiert. Er hat immer die Bilder der Siegermannschaften bei den Schwimmwettbewerben geschossen. Jetzt ist er plötzlich hier in unserer Küche und scheint restlos begeistert von Mom zu sein.
»Wir dachten, es wäre toll, eine kleine Homestory über die Senatorin zu bringen, wie sie bei sich zu Hause köstlich süße Zitronenlimonade zubereitet. Sozusagen als Metapher dafür, was sie für den Staat Connecticut bewirken kann«, erzählt mir Mr Agnoli.
Mom dreht sich zum Herd und überwacht die brodelnde Sirup-Mischung aus Zucker, Zitronensaft und Wasser, während sie Mr Agnoli erklärt, dass das Geheimnis die Zitronenschalen sind, die sie zusätzlich hinzufügt.
»Toll. Ich gehe dann mal wieder nach oben«, sage ich und genau das tue ich auch. Wenn ich es schaffe, hundert Jahre zu schlafen, wache ich vielleicht in einer
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