Mein Sommer nebenan (German Edition)
anfangen, dann wurde es um ihn herum schwarz, bis er im Krankenhaus wieder aufgewacht ist. Aber ich kann den Gedanken nicht abschütteln, dass ihm in dem Augenblick, in dem er dort lag, alles bewusst gewesen sein muss, was passierte. Dass er ganz allein war und Todesangst hatte.« Er dreht sich zu mir um. »Du wärst bei ihm geblieben?«
Man kann nur darüber spekulieren, was man in dieser oder jener Situation tun würde oder getan hätte. Jeder möchte glauben, dass er zu denen gehört hätte, die ihre Schwimmweste einem anderen überlassen und sich mit einem tapferen Winken vom sinkenden Deck der Titanic aus verabschiedet hätten, die sich in die Schussbahn einer Kugel werfen würden, die einem Fremden gilt, oder in den brennenden Twin Towers wieder umgekehrt wären, um nach anderen Überlebenden zu suchen, statt nur an ihre eigene Sicherheit zu denken. Aber niemand weiß, wie er im Ernstfall tatsächlich reagieren würde.
Ich sehe Jase in die Augen. »Ich weiß es nicht«, sage ich, weil es die Wahrheit ist. »Und ich werde es wohl auch nie wissen. Aber in der Situation, in der ich jetzt hier aktuell bin, kann ich mich entscheiden. Und ich habe mich entschieden. Für dich.«
Ich weiß nicht, wer zuerst die Hand ausstreckt. Letztendlich spielt es auch keine Rolle. Jase liegt in meinen Armen und ich drücke ihn so fest ich kann an mich. Ich habe so viel geweint, dass ich keine Tränen mehr in mir habe. Jase’ Schultern zittern, aber das Beben verebbt allmählich. Es vergeht eine kleine Ewigkeit, ohne dass wir etwas sagen.
Und das ist gut so, denn selbst die wichtigsten Sätze – Ich liebe dich. Es tut mir leid. Verzeihst du mir? – sind im Grunde genommen nur Platzhalter für etwas, was man ohne Worte noch viel besser sagen kann.
Achtundvierzigstes Kapitel
A uf der Rückfahrt schweigen wir wieder, aber diesmal ist die Stille eine ganz andere. Jase hält meine Hand, wenn er nicht gerade einen anderen Gang einlegt, und ich lehne mich an ihn und schmiege den Kopf an seine Schulter.
»Und wie geht es jetzt weiter, Sam?«, fragt er, als wir in der Einfahrt neben dem Kombi seiner Eltern halten.
Ihm alles zu erzählen, ist der schwierigste Teil gewesen, aber mir steht trotzdem noch einiges bevor. Ich muss Alice gegenübertreten, Mrs Garrett, meiner Mutter.
»Darüber hab ich mir noch keine Gedanken gemacht.«
Jase nickt, beißt sich auf die Unterlippe und zieht die Handbremse an. »Wie sollen wir es machen? Möchtest du mit zu mir kommen?«
»Ich glaube, ich muss sobald wie möglich mit meiner Mutter reden. Ihr sagen, dass du es weißt. Sie wird …« Ich reibe mir erschöpft übers Gesicht. »Ich habe keine Ahnung, wie sie reagieren wird. Oder was sie tun wird. Aber ich muss es ihr sagen.«
»Okay, hör zu. Ich brauche jetzt erst mal einen Moment, um das alles zu verarbeiten und mir zu überlegen, wie ich es den anderen sage. Ob ich erst mit Mom reden soll oder … ich weiß es nicht. Wenn irgendetwas passiert, wenn du mich brauchst, ruf mich auf dem Handy an, in Ordnung?«
»In Ordnung.« Als ich aussteigen will, hält Jase mich am Arm fest.
»So richtig verstehe ich es trotzdem nicht«, sagt er. »Du hast es doch gewusst, oder? Von Anfang an? Ich meine, wie kannst du es nicht gewusst haben?«
Die Frage ist berechtigt und letztlich alles entscheidend.
»Wie kann es sein, dass du nicht sofort gewusst hast, dass etwas Schreckliches passiert ist?«
»Ich habe geschlafen«, antworte ich. »Ich habe viel zu lange geschlafen.«
Ich weiß, dass Mom zu Hause ist, weil ihre dunkelblauen Sandaletten vor der Tür stehen und ihre Prada-Tasche auf der Kommode in der Diele liegt, aber ich finde sie weder in der Küche noch im Wohnzimmer. Als Nächstes schaue ich in ihrem Zimmer nach, und obwohl ich in diesem Haus wohne, habe ich das Gefühl, unerlaubt in fremdes Terrain einzudringen.
Sie scheint gerade damit beschäftigt zu sein, ihr Outfit für irgendeine anstehende Veranstaltung zusammenzustellen. Auf dem Bett liegen Berge von Klamotten … ein bunter Strauß aus Blumenmustern, sanften Pastelltönen und allen Schattierungen des Meers und dazwischen ihre strengen weißen und dunkelblauen Hosenanzüge.
Die Dusche rauscht.
Moms Badezimmer ist riesig. Sie hat es schon mehrmals umgestalten lassen und es ist mit jedem Mal größer und luxuriöser geworden. Überall liegen flauschige Teppiche, in einer Ecke steht ein Sofa, die Badewanne ist im Boden eingelassen, die Dusche komplett verglast und mit sieben Düsen
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