Mein Tag ist deine Nacht
sie eine ganze Nacht in der Wohnung verbracht hatte, mal ihr Geschäft verrichten.
Ich schlummerte fast sofort ein, was überraschte, da ich am Morgen auch so lange geschlafen hatte. Mein letzter Gedanke als Lauren war der, dass sowohl sie als auch Jessica jeweils um die zwölf Stunden Schlaf bekamen, und dann rührte und regte ich mich in Jessicas Bett, bereit, den Donnerstag von neuem zu durchleben.
Frankie stand geduldig an der Schlafzimmertür, und ich tapste hin und ließ sie hinaus.
»Du armes Mädchen«, sagte ich ihr, als sie im Hof die Treppe hinaufstürmte und sich dann auf dem Rasen erleichterte und mich dabei vorwurfsvoll ansah. »Ich mach’s mit einem schönen, langen Spaziergang wieder wett.«
Nach einem späten Frühstück holte ich Frankies Leine, und wir legten einen strammen Marsch Richtung Stadt hin. Ich wusste genau, wohin ich wollte, und bald erreichten wir ein schickes, neues Gebäude, in dem die Stadtbücherei untergebracht war. Nachdem ich Frankie an eine Bank angebunden hatte, ging ich durch die Automatiktüren, fuhr mit dem Aufzug nach oben und steuerte geradewegs die Sachbuchabteilung an.
Es gab etliche Bücher über extreme Wetterbedingungen, und bald schon fand ich einige über Blitzeinschläge. Ich blätterte sie durch und blickte auf erstaunliche Bilder von gezackten Blitzen, und hätte mich beinahe ablenken lassen, indem ich persönliche Berichte von verschiedenen Blitzschlagopfern las. Sie waren faszinierend, aber nichts gab so recht meine eigenen Erfahrungen wieder. Ich stellte die Richtigkeit von Dr.Shakirs Äußerungen über die bei einem Blitzschlag entstehende Hitze und die daraus resultierenden medizinischen Probleme fest, aber von einem zeitlichen Rücksprung oder der Spaltung einer Seele war nirgends die Rede.
Interessiert nahm ich zur Kenntnis, dass Blitzschläge nicht nur für ihre zerstörerische Kraft bekannt waren, sondern man auch dachte, dass einige der wesentlichen Bausteine der Lebensmaterie ursprünglich von der elektrischen Energie des Blitzes gebildet wurden. Wenn Blitze Leben zu schaffen vermochten, dachte ich, warum sollten sie dann Leben nicht auch teilen können wie etwa bei einer Zellteilung?
Als Nächstes sah ich mich nach einer Abteilung über Träume und ihre Bedeutungen um. Als ich im Krankenhaus das erste Mal als Lauren aufgewacht war, war ich davon überzeugt gewesen, in einem komplizierten und äußerst realistischen Traum zu stecken, und diese Möglichkeit konnte ich auch jetzt noch nicht ausschließen. Nur weil Laurens Leben so real wirkte, musste es das noch lange nicht sein. Ich fragte mich, ob der Blitzschlag Änderungen in meinem Gehirn ausgelöst haben mochte, die nun für diese lebhaften Träume verantwortlich waren. Dieser Gedanke war bestimmt nicht bizarrer als der, zwei Personen würden sich meine Seele teilen.
Ich entdeckte ein Buch, nahm es mit an den Lesetisch und blätterte begierig darin. Aufmerksam las ich, dass mit Träumen verbrachter Schlaf in erster Linie als geistige Erholung betrachtet wurde, während das Gehirn die untertags angeeigneten Informationen ordnet und speichert. Aber wenn das der Fall war, wie hatte ich dann Laurens gesamte Familie ersinnen können?
Natürlich bestand immer die Möglichkeit, dass ich die Figuren aus jenem anderen Leben in einem Film oder einer Fernsehshow gesehen hatte und sie nach dem Vorbild von Leuten, die ich kannte, geschaffen hatte, aber ich konnte mich nicht daran erinnern, sie außer in diesem bestimmten Traum schon einmal irgendwo gesehen zu haben.
Schlimmer noch, dachte ich grimmig, während ich weiterblätterte, was, wenn sich herausstellte, dass ich eigentlich Lauren war, und der an Laurens Gehirn angerichtete Schaden Jessicas Existenz erfunden hatte, um die Leere in ihrem eigenen Gedächtnis aufzufüllen? Wäre dem so, dachte ich schaudernd, dann träumte ich jetzt, und Frankie und Dan waren beide Teil von Laurens unterbewusster Phantasie.
Ich steckte die Bücher in die Regale zurück und versuchte, mich zu beruhigen. Eine Panikattacke in einer öffentlichen Bücherei war das Letzte, was ich brauchte. Ich schloss die Augen und atmete mehrmals tief durch, und als ich sie wieder öffnete, ruhte mein Blick auf einem Buch über die Arbeit Albert Einsteins. Abgesehen von meinem Schulwissen, dass er etwas über die Relativitätstheorie geschrieben hatte, wusste ich nichts über das Werk dieses berühmten Physikers.
Ich fuhr mit den Fingern über den Buchrücken. Konnte die
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