Mein Tag ist deine Nacht
den Fingerspitzen.
Ich dachte an Teddy und seine Alpträume und verzog das Gesicht. Ich wurde das Gefühl nicht los, es könnte noch weitere Anfälle geben.
»Ich habe mich gefragt«, sagte er und sah mich mit seinen durchdringenden blauen Augen forschend an, »ob du Lust hättest, zu mir zu kommen und meinen Vater kennenzulernen? Der alte Knabe hat spitzgekriegt, dass in meinem Leben etwas Wichtiges geschieht, und löchert mich mit Fragen.«
»Ja, gern«, entgegnete ich. »An wann dachtest du?«
»Wie wär’s heute Abend?«
Ich dachte an das lange Ausschlafen am Samstagmorgen. Karen wäre da, um sich um Teddy und den Rest der Bande zu kümmern, und Grant hätte Zeit, Sophie von ihrer Freundin abzuholen. Notfalls brauchte ich erst am späteren Vormittag zu erscheinen, was bedeutete, dass ich, wenn ich wollte, bis elf ausschlafen konnte.
»Das klingt doch prima.«
Am Nachmittag fuhren wir in eine schöne Gegend und wanderten mit Frankie an unserer Seite im Sonnenschein. Vor dem Unwetter am letzten Wochenende hatte ein trockener, sonniger Sommer geherrscht, und nun färbte sich das Laub der Bäume in prächtige Rot-, und Goldtöne. Wir marschierten durch einen Buchenwald, dessen Boden einem orangefarbenen Teppich glich. Das Grau der Buchenstämme wand sich wie durch einen bernsteinfarbenen Baldachin zum klaren, blauen Himmel empor.
»Kaum zu glauben, dass es schon Ende Oktober ist«, murmelte ich, während ich mit meinen Stiefeln durch das herabgefallene Laub stapfte.
»Am Sonntag werden die Uhren zurückgestellt.«
»Oh nein!«
Dan sah mich scharf an. »Was ist so schlimm daran?«
Ich versuchte auszurechnen, wann ich am Samstag ins Bett gehen musste, damit ich mit der zusätzlichen Schwierigkeit der Zeitumstellung am Sonntag rechtzeitig für die Kinder aufwachte.
»Eigentlich nichts, mich wirft das nur immer aus der Bahn, das ist alles. Keine Ahnung, warum.«
»Manchmal bist du eine seltsame Person, Jessica Taylor.« Er drückte mir die Hand. »Aber ich würde dich nicht anders haben wollen.«
Ich erwiderte den Händedruck, doch meine Freude an dem Tag war getrübt. Ich wollte mich nicht zu sehr mit meinem anderen Leben beschäftigen, wenn ich mit Dan zusammen war. Irgendwie kam es mir unehrlich vor, fast so, als würde ich ihn betrügen. Immerhin log ich ja, hatte ein anderes Leben, von dem er nichts wusste, und wenngleich dies hier meine augenblickliche Realität war, konnte ich Grant und die Kinder nicht völlig verdrängen.
»Bessie hätte dieser Ausflug gefallen«, sagte ich und trat ein paar herabgefallene Bucheckern fort, die noch immer in ihren braunen Hüllen steckten. »Wieso hast du sie nicht mitgebracht?«
»Vater fühlt sich einsam, wenn ich sie jeden Tag mitnehme. Gestern war er in der Tagesstätte, aber heute wäre er den ganzen Tag auf sich gestellt gewesen. Wenn er zu lange allein ist, bekommt er Depressionen.«
»Wie alt ist dein Vater?«
»Nächste Woche wird er fünfundsiebzig.«
»Du bist also ein Nachzügler?«, versetzte ich und rechnete im Stillen.
»Er hat viermal geheiratet«, erklärte Dan. »Ich habe zahlreiche Halbschwestern und -brüder, die über ganz England und Irland verteilt leben. Ich bin sein jüngstes Kind.«
»Und deine Mutter? Hat er sie verlassen?«
»Man könnte sagen, sie hat uns verlassen. Sie ist an Krebs gestorben, als ich gerade mal vier war. Vater hat eine Menge verärgerter Familienangehöriger hinter sich zurückgelassen, als er meine Mutter heiratete, eine süße junge Frau aus Surrey. Mutters Familie hat auch nicht viel von Vater gehalten. Folglich gab es in der Verwandtschaft niemanden, bei dem man mich parken konnte. Vater ist hiergeblieben und hat mich allein großgezogen.«
Ich musste an Toby und Teddy denken und daran, wie schrecklich es für einen Vierjährigen war, die Mutter zu verlieren.
»Das tut mir leid, Dan.«
»Das muss es dir nicht. Vater und ich sind immer prima miteinander ausgekommen.«
Wir waren fast wieder beim Auto angelangt, als Dan mich an sich zog und fest auf den Mund küsste.
»Lass dich von meinem Vater nicht verschrecken, wenn er dir erzählt, was für ein Schwerenöter ich in der Vergangenheit gewesen bin. Ich schwöre, dass es nie jemanden gegeben hat wie dich, Jessica.«
Wir fuhren direkt zu Dan, der ganz in der Nähe von Epsom wohnte, vermutlich nur ungefähr eine Viertelstunde von meiner Wohnung entfernt. Das Haus war im typischen nachgemachten Tudorstil erbaut und lag in einer ruhigen Wohnstraße voller
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