Mein ungezähmtes Herz
Honorias fein gezeichnete Brauen gingen in die Höhe. Sie streifte ihren Gatten mit einem kurzen Blick.
»Das muss Minerva mir erzählen. Aber zunächst …« – sie nahm Deliah beim Arm – »… kommen Sie doch aus der Kälte. Es ist wirklich eisig hier draußen, drinnen ist es viel wärmer.«
Nicht nur weil im riesigen Kamin am anderen Ende der langen, halbhoch getäfelten Eingangshalle ein großes Feuer brannte, sondern auch weil die anderen Anwesenden, die sich dort um die Tische und Sessel scharten, sie beinah begeistert begrüßten. Obwohl es für die übliche Weihnachtsdekoration noch zu früh war, schienen sie bereits von der gefühlvollen Stimmung der näherrückenden Festzeit angesteckt worden zu sein. Deliah spürte, wie sie nicht nur im wörtlichen, sondern auch im übertragenen Sinn auftaute.
Sie, Del, Tony und Gervase wurden der Reihe nach allen vorgestellt. Die Männer kannten sich entweder schon oder hatten zumindest voneinander gehört. Sie war der einzige
wirkliche Neuling in der Gruppe, und sie hatte damit gerechnet, sich überflüssig und ausgegrenzt zu fühlen. Doch stattdessen waren die Damen, wie Honoria vorausgesagt hatte, samt und sonders nicht nur erfreut sie kennenzulernen, sondern geradezu versessen darauf, alles zu erfahren, was sie verraten durfte.
Allerdings bildeten die Paare, die in der großen Halle zusammengekommen waren, trotz ihrer Herzlichkeit eine stattliche, beeindruckende Gruppe, wobei der männliche Teil besonders bemerkenswert war. Scandal Cynster, der von seiner Frau Catriona Richard genannt wurde, war ganz eindeutig Devils Bruder; er hatte die gleichen Gesichtszüge und den gleichen Körperbau, jedoch kornblumenblaue Augen. Zu den Vettern des Herzogs zählten Demon Cynster, ein Mann mit welligem, blondem Haar, blauen Augen und einer zarten Frau namens Felicity – die er Flick rief – sowie sein älterer Bruder Vane, ein härterer, ruhigerer Mann, der aber durch das braune Haar und die grauen Augen den anderen Cynsters sehr ähnlich war, samt Gattin Patience. Dann waren da noch Lucifer Cynster, ein sehr eleganter, dunkelhaariger Mann mit blauen Augen und seine Gattin Phyllida; sowie ein gewisser Gabriel Cynster, braunhaarig, haselnussbraune Augen, der Inbegriff eines Schöngeistes und seine Frau Alathea.
Alle Cynsters hatten mit Del und seinen Freunden – den anderen drei Kurieren – in Waterloo gekämpft. Ein weiterer Besucher war der Earl of Chillingworth – den Deliah aufgrund seines Umgangs mit Del und Devil als Gyles Rawlings, den dritten aus dem Schuljungentrio identifizierte – mit seiner Frau Francesca; auch er hatte braune Haare und graue Augen und ein beeindruckendes Auftreten.
Deliah nahm sich vor, bei Gelegenheit einmal danach zu fragen, wie die Männer zu ihren seltsamen Namen gekommen waren, doch noch mehr als die Herren der Schöpfung interessierten sie die Frauen.
Vom äußeren Erscheinungsbild her gab es große Unterschiede. Catriona war eine gelassene, rothaarige Schönheit, Phyllida dunkel und lebhaft, Alathea, Patience und Honoria entsprachen dem Bild der perfekt gepflegten Dame in kultivierten Brauntönen, Flick dagegen war blond und temperamentvoll, während die schwarzhaarige Francesca wie eine Zigeunerin wirkte. Doch trotz der äußerlichen Verschiedenheit ähnelten sie sich nicht nur in Benehmen und Charakter, sondern auch in ihrer Einstellung zur Welt. Sie waren souverän, selbstbewusst und durchsetzungsfähig und fürchteten sich nicht, ihre Meinung zu sagen oder ihre Wünsche zu äußern.
Keine von ihnen gehörte zur schüchternen, sanften und unterwürfigen Sorte. Und nicht eine Einzige schien sich um Konventionen zu scheren, genau wie sie.
Was Deliah fast schockierte.
Abgesehen von Alathea, die, wie Deliah vermutete, ein paar Jahre älter war, waren die meisten Damen jünger als sie, bis hinunter zu Flick, die Anfang zwanzig sein musste. All diese Ladys zählten aufgrund ihres Ranges, ihrer Verbindungen und ihres Reichtums zum Kern der tonangebenden Gesellschaft und entschieden darüber, ob jemand in den höheren Kreisen, der Hautevolee, akzeptiert wurde.
Ihr ganzes Leben lang war Deliah eingeschärft worden, dass sie sich richtig benehmen müsse, um anerkannt zu werden, doch diese Frauen waren alle ganz anders als die, nach denen sie sich hatte richten sollen. Sie waren …
So wie sie.
Von Honoria mit dem aufmerksamen, unbestechlichen grauen Blick, deren üppiges, kastanienbraunes Haar im Feuerschein glänzte, bis hin zu
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