Mein Wahlkampf (German Edition)
Presseausriss vom Vortag in meine Themenmappe gelegt: Die unbeliebte und unsympathische Nachbarstadt hatte im Rahmen einer Gemarkungsstreitigkeit mit Frankfurt vorgeschlagen, ein Stück verwildertes und verkrautetes Brachland an Frankfurt abzutreten und dafür einen völlig intakten Frankfurter Straßenzug dem eigenen Stadtgebiet zuzuschlagen. Ich las aus dem Artikel mit der Überschrift «150 Frankfurter sollen Offenbacher werden» vor: «Den ersten wütenden Anruf eines Frankfurter Bürgers hat der Leiter des Liegenschaftsamtes bereits erhalten: ‹Das machen Sie mit mir nicht, dass ich Offenbacher werden soll und auch noch mit einem Offenbacher Kennzeichen rumfahren muss›, habe ihm der Mann zugerufen, berichtete der Amtsleiter.»
«Derartige Provokationen», erklärte ich, «können wir uns auf keinen Fall bieten lassen. Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückprovoziert! Wir haben am frühen Morgen bereits Mahnwachen aufstellen lassen, und heute Nachmittag werde ich mich an eines der strittigen Häuser anketten – so lange, bis Offenbach seine Provokationen unterlässt. Nach meinem Wahlerfolg werden wir im Gegenzug Offenbach von der Landkarte verschwinden lassen und eingemeinden, und zwar unter der Bezeichnung ‹Ost-Frankfurt›. So können die Offenbacher Autofahrer ihr Kennzeichen ‹OF› behalten.»
Dann leierte ich mein Wahlprogramm herunter, es trug den stolzen Titel «9,5 Thesen für Frankfurt – und keine für Offenbach». Vorher entschuldigte ich mich noch für die versehentliche Ankündigung von fünfundneunzig Thesen, das sei ein Druckfehler gewesen, ein Komma sei vergessen worden. Natürlich hätten wir zunächst an zehn Thesen gedacht, seien dann aber zu der Überzeugung gekommen, dass zu viele Programmpunkte die intellektuellen Fähigkeiten der Frankfurter überfordern würden. Daher also nur 9,5 – die letzte These sei eine Halbthese und laute: «Der Frankfurter Flughafen wird aus Lärmschutzgründen in den Taunus verl–».
Zu den Thesen, die wir für unser Programm ausgearbeitet hatten, musste ich jetzt nur noch zwei dazuerfinden. Und weil in Frankfurt gerade der Weihnachtsmarkt eröffnet hatte, erklärte ich: «Außerdem wird es unter meiner Herrschaft keinen Weihnachtsmarkt mehr in Frankfurt geben. Der krebsgeschwürhaft sich ausbreitenden Bretterbudenpest in deutschen Innenstädten muss endlich Einhalt geboten werden. Frankfurt soll zur ersten weihnachtsmarktfreien Großstadt Deutschlands werden – ein absolutes Alleinstellungsmerkmal!»
Stoisch schrieben die Journalisten mit. Ich gab ihnen noch mehr Futter: «Ich möchte Ihnen außerdem mitteilen, dass ich im Rahmen meiner ersten Amtshandlung vor allem Freunde und Verwandte mit hohen und einträglichen Druckposten versehen werde. Das wollen andere natürlich auch, aber die reden nicht darüber. Ich erhebe das zum Programmpunkt. Und genau das macht mich vertrauenswürdig. Ich stehe für offene, transparente Schweinereien mit menschlichem Antlitz! Und da sind wir auch schon bei der Sozialpolitik. In Frankfurt ist die Arbeitslosigkeit viel zu hoch, dagegen werde ich ganz persönlich und äußerst energisch vorgehen. Damit Sie besser verstehen, was ich meine, will ich Ihnen das erste Plakat unserer Kampagne vorstellen.»
Ich zauberte das Plakat hervor, auf dem ich im roten Anzug mit Bittsteller-Gesichtsausdruck zu sehen war, darunter der Claim «Ich brauch den Job!». «Wenn ich in den Römer einzöge», verkündete ich, «wäre das eine klassische Win-win-Situation – ich säße nicht mehr auf der Straße, und Frankfurt hätte ein junges, undynamisches und nicht zu blindem Aktionismus neigendes Stadtoberhaupt. Mit ‹Ich brauch den Job!› aktiviere ich starke Emotionen wie Mitleid, Neid und Verachtung.»
Um beim Thema zu bleiben, kam ich auf meine finanziell unbefriedigende Situation zu sprechen. Da ich, wie ja inzwischen bekannt sei, von einer Ratifizierung des bereits vorliegenden Wahlergebnisses des Hessischen Rundfunks durch den mündigen Bürger ausginge, bleibe noch festzuhalten, dass ich auch willig wäre, eine ganze Amtszeit abzusitzen. Sollte sich allerdings herausstellen, dass mit nur einer Amtszeit keine vollen Pensionsbezüge verbunden seien, müssten wir uns alle auf eine zweite oder sogar mehrere Amtsperioden einstellen. Das sei dann eine alternativlose Entscheidung. Dass ich heimlich schon an den weiteren Verlauf meiner politischen Karriere und viel höhere Positionen dachte, verschwieg ich geflissentlich.
Die
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