Mein Wahlkampf (German Edition)
Regierungschef, der diese Zeilen schreibt, ist auf alle Eventualitäten vorbereitet. Langsam, aber nachhaltig geht er seinen Weg. Entspannt sitzt er im Bett und raucht, aufrecht und zugleich gelassen, und lässt die Dinge kommen. Er ist bereit. Jederzeit könnte er aufspringen und die Regierungsgeschäfte übernehmen. Das ist gut. Und wichtig, denn in der Spitzenpolitik sind Überraschungen nie auszuschließen. Dann muss es plötzlich sehr schnell gehen. Ein simpler Herzinfarkt, eine Entführung durch Terroristen, ein Flugzeugabsturz – schon ist der alte Regierungschef dahin, und ein neuer muss her. Selbstverständlich braucht der Neue sofort ein schlüssiges, zukunftsfähiges, ja im besten Sinne proaktives Regierungsprogramm, mit dem er das Land gekonnt und fürsorglich aus dem Dreck zieht.
Für mich kein Problem.
Apropos Absturz: Als die Zwillinge Lech und Jarosław Kaczyński in Polen an die Macht kamen, der eine zum Präsidenten gewählt wurde und daraufhin seinen Bruder zum Ministerpräsidenten machte, war das ja schon verwirrend genug. Als dann aber einer der beiden Doppelgänger mitsamt der halben polnischen Regierung bei einem Flugzeugcrash ums Leben kam, herrschte hernach noch größere Verwirrung – welcher von den zweien war denn nun so unsanft gelandet? Der mir persönlich bekannte Auslandskorrespondent Uwe Becker war bei der Trauerfeier vor Ort und musste mit anhören, wie der überlebende Bruder von einem kondolierenden Gast gefragt wurde: «Wer ist denn jetzt eigentlich abgestürzt – Sie oder Ihr Bruder?» Einen solchen unangenehmen Wirrwarr kann ich bei meiner Machtübernahme von vornherein ausschließen. Ich bin einmalig, und wenn ich abstürze, dann nur persönlich.
Jedenfalls habe ich seit ein paar Tagen ein hochaktuelles, tragfähiges, universelles, auch für Laien leicht verständliches Regierungsprogramm. Das Geniale an diesem Programm ist, dass es nicht mal teuer war. Ich habe es sehr preiswert erarbeiten lassen, nämlich von meinen engsten Vertrauten, und die arbeiten ja für Gotteslohn und die vage Aussicht auf lukrative Versorgungsposten nach der Wahl, falls ich das nicht schon erwähnt habe. Ich weiß nur noch nicht, ob ich es «Programm» oder «Studie» oder «Agenda» nennen soll. Oder «Plan B»? Oder «Kommandoerklärung»? Jeder Begriff hat seine eigene Magie, und wenn man keinerlei Magie versprühen will, dann nennt man einen solchen Denkzettel wohl «Positionspapier».
Ich habe also für den Fall einer Ad-hoc-Amtsübernahme immer ein fertiges, regelmäßig aktualisiertes Regierungsprogramm in der Manteltasche, sodass ich aus dem Stand und jederzeit politische Weichenstellungen vornehmen kann. Mir ist diese Situation bestens vertraut, ich bin sie schon oft im Rahmen eines Gedankenspiels oder eines Traumszenarios durchgegangen.
Der Traum beginnt immer gleich: Mitten in der Nacht klingelt das Telefon, und der Bundespräsident ist dran. Er ist freundlich, aber bestimmt, spricht mit ruhiger, pastoraler Stimme und großem Ernst. Ja, das sei ja sogar für ihn, den Bundespräsidenten, eine echte Überraschung gewesen, als er heute Nachmittag diesen Passus im Grundgesetz gefunden habe, der besage, dass in einer nationalen Notsituation, im Falle einer urplötzlich ausgefallenen Amtsinhaberin, einer der Lächerlichkeit preisgegebenen Regierungskoalition bei gleichzeitiger totaler Untauglichkeit der Opposition und völliger Arschoffenheit der pervers verkommenen Kleinparteien, dass also im Falle einer solchen Spezialkatastrophe der ganze Sauhaufen von ihm, dem Bundespräsidenten, entlassen werden könne – was er höchstselbst und in eigener Person vor wenigen Minuten auch getan habe. Dann habe er, das Staatsoberhaupt, sich mal so umgehört, wer denn jetzt überhaupt noch in Frage käme und so weiter, kurz und gut: Ob ich ab morgen übernehmen könne.
Ich bejahe. Schließlich kenne ich mich in Politik gut aus, sage ich, Politik, das sei für mich weit mehr als nur ein Hobby, erkläre ich, ja streng genommen sei Politik für mich fast eine Passion, wenn nicht sogar Lebensinhalt. Ich sei ja historisch gesehen schon auf die gleiche Schule gegangen wie der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth, und wenn das nicht als Beweis meiner Qualifikation ausreiche, dann könne ich noch anfügen, dass ich fast meine komplette Studienzeit in Tübingen verbracht habe, wie das auch der nachmalige Papst Ratzinger Nr. 16 tat. Ich, wie gesagt, als Student, Ratzinger als
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