Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis
gewesen, wenn es um sein Privatleben ging. Nach und nach habe ich mir aus den Gesprächen mit ihm eine gewisse Vorstellung davon gemacht, wie er aufgewachsen war. Seine Mutter war offenbar eine Russin aus der Rjasaner Gegend, sein Vater Tschetschene – seine Großeltern lebten in Tschetschenien, und in seiner Kindheit hatte er oft die Ferien bei ihnen verbracht. Aber weißt du, er hat niemals seine persönliche Einstellung zu dem geäußert, was in Tschetschenien vor sich ging. Er ist ein introvertierter Kerl. Ich wusste wenig darüber, wie er lebte. Nur, dass er ein Nachtmensch war, dass er Gedichte schrieb und gern mit kreativen Leuten zusammenhing. Das mochte er. Es wurde allerhand darüber geredet, dass er gern mal was trank.«
Ich weiß nicht mehr, wann ich selbst Slawa Surkow kennengelernt habe. Das ist sehr lange her. Und ich muss zugeben, dass mir seine Boheme-Seite – anders als seine Beamtennatur – durchaus imponiert. Trotz meiner kritischen Artikel über den Kreml und insbesondere über Surkow kann ich ihn immer noch anrufen, und das ist wohl sein Verdienst. Während der seltenen Gespräche, die wir in den letzten Jahren führten, hatte ich oft das Gefühl, als sei die Zeit stehengeblieben. Wir lachten und scherzten wie früher, als es noch ein anderes Leben gab, mit einem anderen Präsidenten, und vielleicht auch einem anderen Slawa.
Irgendwann habe ich ihn einmal nach Chodorkowski gefragt. Ich erinnere mich sehr gut an dieses Gespräch im Herbst 1999. Surkow sagte: »Der erste Eindruck von ihm war: Das ist eine Figur, die auf einem anderen, höheren Spielniveau agiert. Wie eine Art Prophet – was er sagt, ist nicht klar, und trotzdem will man sich ihm anschließen.
Sein Äußeres hinterließ einen seltsamen Eindruck: kräftiger Nacken, die Figur eines Kämpfers, aber eine sehr feine Stimme. Ein Schnauzbart, wieso auch immer. Mit den Jahren ist der Schnauzer verschwunden. Die Stimme ist sonorer geworden, damals war sie beinah kindlich.
Wir sind sehr verschieden. Eben deshalb konnte ich einiges von ihm übernehmen. Er sagte, sein Sternzeichen sei Krebs, er brauche einen Panzer, er brauche Bestimmtheit und eine klare Struktur. Für mich, meinte er, sei es interessanter, im Unbestimmten zu leben, in unsicheren und wechselhaften Zuständen. Und das stimmte wohl. Deshalb setzte er mich auch dort ein, wo ihm selbst, nach seiner Auffassung, das Feingefühl für das Umfeld fehlte: Medien, Public Relations, Kultur. Und Politik …
Äußerlich war er ein sympathischer Bürokrat, kühl und ziemlich zurückhaltend. Wenn es einem aber gelang, mit ihm ins Gespräch zu kommen, entdeckte man eine unglaubliche Tiefe. Er hatte so eine Art Bürocharisma, so habe ich das genannt. Das heißt, dass er in der Öffentlichkeit damals ziemlich blass wirkte, aber in einem Vieraugengespräch war sein Charme grenzenlos. Bei jedem dieser Gespräche mit ihm konnte ich ungeheuer viel Energie tanken, ich fühlte mich dann wie eine Rakete auf Zielkurs.
Er hielt immer Wort, er mochte mich und erlaubte mir Dinge, die er anderen nicht zugestanden hätte. Zum Beispiel kam ich immer zu spät, auch zu seinen vielen Arbeitsplanbesprechungen. Das Kollektiv sah das und einige schnauften: ›Wieso darf der das?‹ Einmal sagte er: ›Wenn ihr so viel Profit einbringt wie Slawa, erlaube ich euch auch, zu spät zu kommen.‹ Für mich war das ausgesprochen schmeichelhaft.
Aber Profit hin oder her, er war wirklich verdammt knauserig. Wenn ich ihm erklärte, er müsse vernünftig zahlen, der Arbeit entsprechend, bot er mir immer wieder nur an: ›Ich gebe dir, so viel du willst, aber auf Kredit‹. Und zwar ohne auch nur den Anflug eines Lächelns. Das muss man sich mal vorstellen – Gehalt auf Kredit. Das heißt, je besser man arbeitet, desto höher verschuldet man sich. Ganz neue Arbeitsbeziehungen sind das. Aber er fand das nicht absurd. Er erklärte immer wieder geduldig, er wolle nicht, dass die Mitarbeiter eigenständig investieren könnten. Sonst würden sie auf eigene Rechnung arbeiten und nicht mehr für das Unternehmen. Persönlichkeitsmerkmale, die sich auf dieselbe Weise manifestieren, können hinsichtlich ihrer Qualität und Entstehung sehr verschieden sein. In diesem Fall ging es nicht um Geiz oder Knauserigkeit als Folge geistiger Armut und dürftiger Vorstellungskraft, sondern um eine wirklich seltsame und, ich würde sagen, erhabene Logik, die Teil eines alles andere als trivialen Weltbilds war.
Jedenfalls verließ ich
Weitere Kostenlose Bücher