Mein Wille geschehe
Corey war jeden-
falls zur falschen Zeit am falschen Ort. Und wenn eine Lawine über Sie herunterbricht, können Sie
nicht viel tun, um sie aufzuhalten.« Dana ging ein paar Schritte auf und ab und blieb dann stehen.
»Und schauen Sie sich nur an, wie die Polizei mit Joshua Clune umgesprungen ist«, forderte sie die
Geschworenen auf. »Sie haben ihn von der Stra-
ße geholt, ihn eingesperrt und zu Tode er-
schreckt. Es würde mich nicht wundern, wenn
man ihm gedroht hätte, den Schlüssel zur Zelle
wegzuwerfen, wenn er nicht tut, was man ihm
sagt. Joshua also, der meinen Mandanten sechs
Wochen nach dem Anschlag weder in der Zeitung
noch im Fernsehen identifizieren kann, erkennt
plötzlich sieben Monate später in ihm den Mann
wieder, der die Bombe im Hill House deponiert
hat.« Sie nickte nachdenklich und bemerkte, dass
Rose Gregory dasselbe tat.
»Nun, hatte Elise Latham eine Abtreibung vor-
nehmen lassen?«, fuhr Dana fort. »Ja, das hat
sie. Niemand bezweifelt das. War Corey wütend
darüber? Ja, das war er, verständlicherweise.
Weil sie nicht nur sein Kind getötet, sondern ihn überdies belogen hat. Als er das erfuhr, wurde er wütend, sehr wütend, begreiflicherweise. Doch
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wie wir gehört haben, schloss er sich einer
Selbsthilfegruppe an, verzieh seiner Frau und
verarbeitete seine Trauer. Die Anklage konnte
keinerlei Beweise für das Gegenteil vorlegen.
Nicht ein einziger Zeuge hat ausgesagt, dass er
im Januar, oder gar im Februar, noch mit seiner
Wut gerungen hat. Und apropos Elise: Sie schlief
direkt neben Corey in der Nacht, in der die Bom-
be gelegt wurde. Sie hat Ihnen selbst gesagt,
dass sie einen leichten Schlaf hat und aufgewacht wäre, wenn ihr Mann aufgestanden wäre. Was tat
man bei der Polizei? Man schenkte ihrer Aussage
keine Beachtung, weil sonst die dürftige Beweis-
lage in diesem Fall geplatzt wäre, und das durfte natürlich nicht passieren. In ihrer Verzweiflung
versuchte die Anklage sogar, ohne auch nur die
Spur eines Beweises dafür vorlegen zu können,
zu unterstellen, dass Corey irgendein Mittel in
Elises Kakao geschüttet habe. Doch in Wirklich-
keit ist sie nicht aufgewacht, weil Corey nicht
aufgestanden ist. So einfach ist das.«
Dana schien einen Moment über etwas nachzu-
denken und dann einen Entschluss zu fassen.
»Ich könnte so fortfahren«, sagte sie, »und
sämtliche Lücken und Fehler in der Arbeit der Po-
lizei und der Staatsanwaltschaft aufzeigen. Doch
dieser Prozess hat schon lange genug gedauert.
Es ist jetzt an der Zeit, dass Sie Ihre Entschei-
dung treffen. Und wenn Sie sich nun in den Ge-
schworenenraum zurückziehen, um das Schicksal
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von Corey Latham zu erörtern, so möchte ich Sie
bitten, daran zu denken, dass die Anklage außer
Stande war, auch nur ein einziges Beweisstück
vorzulegen, das eindeutig beweist, dass mein
Mandant dieses Verbrechen begangen hat. Nicht
eines. Alles, was man Ihnen als Beweise vorlegte, waren Zufälle, Spekulationen oder schlicht Erfin-dungen. Und Sie können nicht einfach sagen, das
sei nicht wichtig, weil Sie glauben, dass Corey
Latham den Anschlag begangen hat, oder weil Sie
möchten, dass er es getan hat, oder weil die Polizei sagt, dass er es getan hat. Ihre Haltung muss sein: ›Ich habe mir jede Aussage genauestens
angehört und bin ohne jeden Zweifel zu dem
Schluss gekommen, dass Corey Latham schuldig
ist.‹ Wenn Sie diese Haltung nicht einnehmen
können, dann ist er unschuldig.« Sie hielt inne
und sah jeden Geschworenen an. »Der Anschlag
auf Hill House war ein entsetzliches Verbrechen«, sagte sie. »Viele Menschen starben grundlos, und
das Grauen, das wir empfinden, ist so lebendig
wie am Tag des Geschehens. Doch wir müssen
einen Weg finden, Grauen und Schmerz beiseite
zu lassen, die öffentliche Meinung auszuschließen und jeglichen Druck zu vergessen. Und vor allem
müssen Sie dem Drang widerstehen, Corey
Latham einfach so zu verurteilen, weil Sie glau-
ben, dass irgendjemand für dieses Verbrechen bestraft werden sollte. Denn das wäre ein ebenso
schreckliches Verbrechen.«
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Dana schien die Schultern zu straffen, um eine
besonders wichtige Aussage zu machen.
»Ich möchte noch etwas über den Boten sagen«,
fuhr sie dann gelassen und würdevoll fort. »In
einer Redensart heißt es, dass man nicht den Bo-
ten erschießen soll, weil einem die Botschaft nicht gefällt. In diesem Fall jedoch möchte ich Sie bitten, die Botschaft nicht
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