Mein Wille geschehe
schon mit mei-
nem Chef geredet. Er gibt mir so oft frei, wie es nötig ist.«
»Ich möchte auch dabei sein«, meldete sich He-
len Gamble zu Wort. »Meine Zwillinge sind zwar
am Leben, aber ich möchte für all die anderen
wie Brenda und Caitlin herkommen, die nicht ü-
berlebt haben.«
»Ich auch«, sagte Marilyn Korba. »Ich bin sicher, mein Jeff würde wollen, dass ich den Prozess verfolge.«
»Gut, dann machen wir Folgendes«, verkündete
Brian. »Wir halten, sagen wir mal, jeden Morgen
bis zehn Uhr vierzig Plätze frei. Nach zehn Uhr
werden Sie dann für die Öffentlichkeit freigege-
ben. Sie können die Plätze unter sich aufteilen,
wie Sie wollen, es gibt keine festen Zuweisungen.
Sind alle damit einverstanden?«
Man vernahm zustimmendes Gemurmel. »Ich
stehe gerne als Koordinator zur Verfügung«, sag-
te Frances Stocker, die aufgestanden war. »Jeder
kann meine Telefonnummer haben und anrufen,
und ich sage Ihnen dann, ob noch Plätze zur Ver-
fügung stehen.«
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»Augenblick mal«, warf Carl Gentry ein. »Und
was ist mit der Urteilsverkündung? Die wollen
bestimmt alle von uns miterleben.«
Alle nickten und blickten erwartungsvoll den
Staatsanwalt an.
Brian wusste, dass es von unschätzbarem Wert
war für die Anklage, wenn jeden Tag Überlebende
im Gerichtssaal saßen und vor den Augen der
Geschworenen auf die Ereignisse reagierten.
Doch wenn die Geschworenen sich erst einmal
zurückzogen, waren sie eigentlich überflüssig,
und die Journalisten im Lande würden sich förm-
lich darum prügeln, zur Urteilsverkündung im Ge-
richtssaal zu sein. All diese Menschen in einem
Raum unterzubringen, der nur für etwa zweihun-
dert Personen vorgesehen war, würde vermutlich
ein Ding der Unmöglichkeit sein.
»Ich weiß nicht, ob sich das einrichten lässt«, gab er zu. »Aber ich werde sehen, was ich tun kann.«
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Seattle war zu jeder Jahreszeit eine bezaubernde
Stadt, auch im Frühherbst. Die Stadt, die zwi-
schen Puget Sound und Lake Washington lag und
von eindrucksvollen schneebedeckten Bergen
umgeben war, galt als Perle an der nordwestli-
chen Pazifikküste und als Geheimtipp unter Rei-
senden. Der zweite Montag im September war
klar und strahlend. Die Sonne erhob sich über
dem Mount Rainier und tauchte Seattle in sanftes
Licht. Um acht Uhr morgens hatte es sechzehn
Grad.
Abraham Bendali ruderte wie üblich eine Stunde
auf dem Lake Washington, dann duschte er, zog
sich an, aß zum Frühstück Müsli und Eier und
küsste zum Abschied seine Frau. »In ein paar
Monaten sehen wir uns wieder«, sagte er, als er
aufbrach.
Nach dreiundviei zigJahren an seiner Seite wusste Nina Bendali, was diese Worte bedeuteten. Ihr
Mann würde abends nach Hause kommen und
auch am Wochenende. Er würde essen, schlafen
und lesen und in seinem Arbeitszimmer am Ka-
min sitzen, und er würde sich vielleicht auch mit ihr unterhalten. Doch seine Gedanken und auch
seine Gefühle würden bis zum Ende des Hill-
House-Prozesses von den Ereignissen im Ge-
richtssaal in Anspruch genommen sein.
Brian Ayres stand im Morgengrauen auf, duschte,
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rasierte sich und stellte sich vor den Spiegel im Badezimmer, wo er sein Eröffnungsplädoyer noch
einmal probte. Er arbeitete schon seit Wochen
daran, verwob die einzelnen Bestandteile des
Falls miteinander, überlegte sich fließende Über-
gänge, perfektionierte jeden Satz und wiederhol-
te bei jeder Gelegenheit seine Hauptaussage.
Zum Glück hatte er ein gutes Gedächtnis. Er
musste etwas nur drei- bis viermal durchlesen,
dann hatte er es gespeichert. Es ärgerte ihn,
wenn er Staatsanwälte sah, die Notizen zu Hilfe
nehmen mussten und deshalb keinen Blickkon-
takt mit den Geschworenen halten konnten.
Wenn Verteidiger das taten, war er allerdings
hocherfreut. Als er der Meinung war, dass er alles Notwendige erledigt hatte, fuhr er mit seiner Familie übers Wochenende zum Angeln am Lake
Quinault, wo er absichtlich jeden Gedanken an
den Prozess verdrängte. Als sie zurückkamen, las
er seine Texte noch einmal durch und stellte zu-
frieden fest, dass er fast alles in Erinnerung behalten hatte. Die Generalprobe vor dem Spiegel
war nur Routine.
Abgesehen von Elise, die ihre üblichen Besuche
absolvierte, seinem ehemaligen Zimmergenossen
Zach Miller, der für eine halbe Stunde herein-
schaute, und Tom Sheridan, der sich zu diversen
Bibellesungen einfand, sah Corey Latham in den
Tagen vor dem Prozess
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