Mein wirst du bleiben /
in einem Nomadenzelt an der Wand entlang ausgelegt waren. Sebastian, sein älterer Sohn, balgte sich mit ein paar anderen Fünfjährigen. Müller freute sich über das unbeschwerte Spiel. Leben, das noch frei von Sorgen und den Wirrungen des Erdendaseins war. Um halb elf würde Michaela mit dem Jüngeren kommen und die Rasselbande gemeinsam mit ihm, Tobias, zu Bett bringen. Heute Nacht wären sie eine riesige Familie, geborgen im Schoß des unendlichen Firmaments.
»Sing, sing, sing«, grölte Max und zog Müller am Pferdeschwanz.
»Na warte, Frechdachs«, rief Müller, zeigte die Zähne, »rrrrr, ich bin ein Löööwe.« Er kitzelte den Jungen, bis er vor Lachen japste. Asyyah, ein schwarzhaariges Mädchen mit riesigen, dunklen Augen, warf sich auf Max, und die beiden tollten weiter, ein zweites Mädchen gesellte sich zu ihnen, und bald war das Matratzenlager ein einziges Knäuel aus kichernden Kindern.
Müller stand auf, nahm die Gitarre aus dem Kasten und stimmte
Heute war ein schöner Tag
an, als er Miriam Roth im Zelteingang stehen sah, blass, die Bluse verdreckt, das Haar wirr.
»Seid brav«, rief er, und sein Herz verkrampfte sich, »ich bin gleich wieder bei euch. Und dann singen wir das schönste Gutenachtlied, das Gott je gehört hat. Einverstanden?«
»Sing, sing, sing«, brüllte Max, und Tobias eilte hinaus, zog Miriam mit sich in den Park, wo er sie hinter einem Rankgitter für Rosen und Clematis an den Schultern packte. »Um Himmels willen, Miriam, was ist passiert?«
Ihr Gesicht leuchtete weiß in der Nacht. »Er hat einen Brief geschickt! Er will uns vernichten!«, stieß sie hervor.
Der süßliche Pflanzenduft, den er eigentlich liebte, ließ ihn würgen. »Wo ist Thea?«
»In Sicherheit«, flüsterte sie.
»Wo? Und wer hat was für einen Brief geschickt?«
Bete für sie!
»Sie tun mir weh!«, sagte sie, und er merkte, dass seine Finger sich bis auf ihre Schlüsselbeine gebohrt hatten.
Augenblicklich ließ er sie los. »Entschuldigen Sie. Ich habe mir Sorgen gemacht. Um … um Ihre Mutter. Und um Sie.«
»Mama ist zu Hause.« Miriam senkte die Stimme, und ihr Gesicht leuchtete weiß in der Nacht. »Ich habe sie betäubt.«
Ein kalter Schauer durchfuhr ihn.
»Der Brief. Er will Böses mit ihr tun!«
»Miriam, ich –«
»Er hat jemanden an die Tür geschickt. Aber ich habe die Kommode dagegengeschoben und einen Stuhl unter die Klinke geklemmt.« Sie erzählte immer schneller. »Es war die dicke Frau aus der Arztpraxis. Sie hat nach Mama gerufen. Bestimmt denkt sie jetzt, ich sei total durchgedreht.«
Ja, dachte Müller und blickte kurz in den Himmel, zu den Augen Gottes, die auf ihnen ruhten, das bist du.
»Helfen Sie uns. Bitte!«
Kinderlachen drang herüber, und jemand schrammte unbeholfen über die Saiten der Gitarre. Er hatte sie nicht in den Koffer zurückgelegt. Sie vergessen. Wie so vieles in letzter Zeit. Sogar die Nächte waren mühsam gewesen. Traumsequenzen hatten ihn auffahren lassen, Bilder von Engeln, von Miriam, der er weder entkommen noch helfen konnte. Dann war er in Phasen ähnlich einer Bewusstlosigkeit gefallen, und seine Frau hatte ihn am Morgen kaum wecken können. Michaela war besorgt – er ignorierte ihre Liebe. Sie hatte das nicht verdient, und er konnte sich nicht einmal schämen.
Als Kommissar Ehrlinspiel bei ihm gewesen war, hatte er von Charlotte Schweiger erzählt. Davon, dass er Gärtner nicht hatte beistehen können. Einen Psychologen für angebracht gehalten hatte. Jetzt holte ihn seine Hilflosigkeit ein. Schlimmer als je zuvor. »Hilf, Gott! Hilf uns beiden«, flüsterte er und schlang seine Arme um Miriam, spürte ihre Knochen und schmeckte sein bitteres Versagen.
Sie legte ihre Arme seitlich an seine Hüfte, ein Vibrieren schoss durch seine Lenden, doch schon entwand sie sich ihm.
»Wer hat den Brief geschrieben?« Er zwang sich auf eine objektive Ebene zurück.
»Der Mann gegenüber. Der mit dem Fernrohr.«
Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Gleichzeitig spürte er das Leben wie einen Mühlstein um seinen Hals. Er hatte sein Schweigegebot gebrochen, Ehrlinspiel angerufen, von Miriams Verdacht erzählt. Der Polizist hatte den Nachbarn bestimmt überprüft. Erst die verschwundene Mutter, dann Fernrohre, Drohbriefe … Miriams Geist war dem Wahn anheimgefallen. Jetzt war er sicher. Es stimmte, was er im Internet gelesen hatte. Sie war verrückt …
Nein!
So durfte er nicht denken. Das
durfte
nicht sein. »Wo ist der Brief? Was steht
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