Mein wirst du bleiben /
Platz genau
hier
war. Bei Miriam. In diesem Haus. Ihre Tochter hatte recht. Es ging ihnen gut. Es ging
ihr
gut. Trotz allem.
Thea räumte die Teller in den Schrank.
Martin Gärtner … Vorhin, als sie es in der Wohnung nicht mehr ausgehalten hatte und stundenlang ziellos durch die Straßen gewandert war, sich ein paar Minuten am Kinderspielplatz auf eine Bank gesetzt hatte, dann unruhig weitergezogen war, hatte sie über ihn nachgedacht. Wie gut oder schlecht mochte es dem stillen Mann in Wahrheit gegangen sein? Von was hatte er geträumt, wonach gesucht? Thea hatte eine Vorstellung davon. Doch die wagte sie nicht zu denken. Sie spürte den Druck hinter ihren Augen. Was hatte Miriam überhaupt mit ihm zu schaffen gehabt? Thea schluckte. »Was wollte die Polizei von dir?«
»Nichts. Sie haben bloß im Haus herumgefragt, ob jemandem etwas aufgefallen ist. Mach dir keine Sorgen. Wir kannten den Mann doch gar nicht.«
»Er war ein Nachbar, Miriam!«
»Wo viele Menschen wohnen, sterben täglich Leute. Du solltest dir das nicht so zu Herzen nehmen.« Miriam zog den Stöpsel aus dem Abfluss und wrang den Spüllappen aus. »Wir haben genug Probleme, die uns beschäftigen. Da brauchen wir nicht auch noch einen fremden Toten.«
Thea setzte sich an den weiß lasierten Tisch. War sie denn die Einzige, die von Martin Gärtners Tod betroffen war? Für einen Moment gingen ihre Gedanken zu den Gabriele Hofmanns dieser Welt, die kaum registrierten, was um sie herum passierte. Die Arzthelferin war völlig auf sich und den Mann fixiert, der sie betrogen hatte. Der brutal zu ihr gewesen war und den sie dennoch nicht loslassen konnte. Eine kurze Sekunde lang versteiften sich Theas Schultern.
Mit Sehnsucht nach Liebe hatte Gabrieles Verhalten kaum etwas zu tun. Mit der Unfähigkeit, allein zu sein, vielleicht. Mit Rache. Und mit Macht.
»Was hast du heute alles gemacht? Warst du bei Hilde Wimmer?«, fragte Miriam. »Du bist so still, du erzählst gar nichts.«
»Mhm.« Die Vorstellung von Gärtners letzten Stunden verfolgte sie. Sie sah ihn in seiner Wohnung sitzen. Vielleicht Musik hören. Dem Hund von seinen Wünschen erzählen und von früher. Sie sah seine Hand über die Ohren des zotteligen Tieres streichen. Bis plötzlich … Sie blickte Miriam an, und ihr Brustkorb wurde enger. »Wie … wie ist er umgekommen? Haben sie etwas gesagt?«
Miriam strich sich die Haare zurück, die sich aus ihrem langen, geflochtenen Zopf gelöst hatten. »Nein, Mama. Sie wollten nur wissen, ob er in letzter Zeit anders war.«
»War er es? Weißt du etwas? Hast du vielleicht … mit ihm gesprochen?« Ein Kloß bildete sich in Theas Kehle.
Miriam setzte sich und legte ihre Hand auf die der Mutter. »Hast du mir nicht schon als kleines Mädchen immer gesagt, ich solle mehr auf die Menschen zugehen? Freunde suchen? Mit den andern spielen?«
»Und erzählst
du
mir nicht immer, dass ich über meine Bemühungen fast verzweifelt bin? Dass du eben so bist, wie du bist? Still und lieber für dich, versunken in deine Musik? Buxtehude, Händel, Bach? Dieses ganze geistliche Zeug?«
»Eben. Auch wenn die nicht nur geistlich sind.« Miriam lächelte. »Aber mit dir verbringe ich meine Zeit genauso gern wie mit Kantaten und Oratorien. Du hast immer gut für mich gesorgt. Jetzt sorge ich für dich.«
»Für Martin Gärtner hat niemand gesorgt.« Thea wusste, dass sich das wie ein Vorwurf anhören musste und der bei Miriam an die falsche Adresse gerichtet war. Ihre Tochter war nicht der Typ, der sich um Nachbarn und Einsame kümmerte, so wie sie selbst es tat.
Das Leben sollte doch lebenswert sein. Für jeden.
Als am Montagabend Gärtners Hund so laut gekläfft hatte, hatte Thea noch gezögert. Sollte sie …? Später, nachdem sie Hilde Wimmer ein paar Kissen in den Rücken geschoben und die Fernsehnachrichten eingeschaltet hatte, hatte sie geklingelt. Es war still geblieben. Dann hatte sie es nicht mehr gewagt. Und jetzt war es zu spät.
Gute Seele.
Von wegen. Die Wimmer sah eben auch nur eine Seite.
»Mama, bitte.« Miriam schob den Stuhl zurück und schloss die Balkontür. »Quäl dich nicht so mit seinem Schicksal. Du musst auf dich achtgeben!«
Thea senkte ihren Blick auf den kleinen Tischläufer. Er hatte einen gehäkelten Rand, zierliche Maschen schlangen sich ineinander, bildeten ein Blattmuster aus schmalen Stegen, berührten sich, spannten sich weiter, immer im Kreis, ohne Anfang und Ende. »Das Leben kann so schnell vorbei sein!«,
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