Mein wirst du bleiben /
Geiste, habe mein Ziel vor Augen. Eine Woche wird zum Tag, ein Tag rafft sich zur Stunde zusammen, eine Stunde zur Minute, rasch, immer rascher, und am Ende wartet die Erlösung im Licht.
Doch was schreibe ich! Ich sollte nicht so reden. Es ist nicht gut, es schürt deine Angst. Das hat es schon damals gemacht. Es gibt so vieles, was du nicht verstehst. Du erkennst mein Entgegenkommen nicht und verachtest noch immer die gütige Hand, die ich dir entgegenstrecke. Siehst das Licht nicht, das dir den Weg in das Bollwerk unserer Liebe weist und das dir ewig leuchten wird.
Über deinen Tod hinaus.
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20
Sonntag, 8. August, 5:30 Uhr
D ie Tropfen fielen auf den Kunstgazestoff in ihrer Hand, perlten daran herab, verfingen sich in den Falten. Wie Morgentau, der jetzt, morgens um halb sechs, da draußen auf den Wiesen glitzert, dachte sie. Wann war sie das letzte Mal im Morgengrauen in der Natur gewesen?
Sie trat nach dem Wäschekorb, aus dem sie den Vorhang genommen hatte. Hinter die ausrangierte Wäscheschleuder hatte sie ihn gestellt, verborgen vor Miriams wachsamen Augen.
Thea Roth strich über den einst weißen Stoff. Kühl und glatt, fast glitschig, fühlte er sich an, und seine grauen Schlieren schienen ihr wie ein höhnisches Spotten des Todes.
Fast dreißig Jahre lang hatte er Schutz geboten vor den Blicken der Nachbarn, hatte ein bescheidenes Heim gemütlicher gemacht. Und jetzt rieb sie, Thea, den Staub von mindestens fünf Jahren Leben zwischen den Fingern. Atmete, wenn sie den Stoff vor ihr Gesicht hob, Gerüche ein, die Hilde Wimmer verströmt, Partikel, die sie ausgedünstet hatte.
Die Wohnung hatte kahl ausgesehen in den letzten Tagen. Hilde Wimmer war wehrlos gewesen. Thea war nicht zum Waschen gekommen. So durcheinander war alles.
Tränen rannen ihr warm über die Wangen. Sie musste den Vorhang reinigen, weiß! Strahlend weiß! Wenigstens jetzt. Wenigstens hinterher. Sie hatte es der alten Frau doch versprochen. Und sie hielt ihre Versprechen immer.
Sie starrte auf die Einfüllklappe der Waschmaschine.
Öffne sie!,
doch ihre Arme sanken wie gelähmt herab, und der Vorhang glitt auf den Betonboden, auf dem Waschmittelreste im Licht der Leuchtstoffröhre wie bleiches Wachs schimmerten. Der Boden begann, sich zu bewegen, die Maschinen drehten sich vor ihr, verwandelten sich in Figuren, die auf sie zuschwankten und einen makaberen Totentanz aufführten.
Es ist ein Film, dachte sie.
Stop!
Keine Bilder mehr, kein Kopfkino. Kein Alptraum!
Sie hob die Arme, versuchte, eine der Figuren zum Stehen zu bringen, griff nach ihren Schultern, »Bitte, aufhören!«, und im nächsten Moment stand sie da, gestützt auf eine der Waschmaschinen, und alles war still.
Gespenster!
Sie atmete tief durch, versuchte, die letzten Stunden zu ordnen.
Nachdem sie Hilde Wimmer auf dem Sofa zurückgelassen hatte, war alles wie immer gewesen. Miriam und sie aßen zu Abend. Tomaten-Mozzarella-Salat und Baguette. Die Tochter räumte den Tisch ab. Fragte sie, wie ihr Tag gewesen war. Thea erzählte von Hilde Wimmer und dass sie deren Hadern mit dem Alter immer besser verstand. Sie berichtete von dem kleinen Nachmittagsspaziergang, bei dem sie den Schwänen das alte Brot gebracht hatte. Anschließend war Thea zu Bett gegangen. Den ganzen Tag hatte sie sich schon darauf gefreut gehabt, vor dem Einschlafen das Porträt über Maria Schell zu lesen. Sie hätte sie so gern einmal auf der Bühne erlebt, als Claire im
Besuch der alten Dame.
Tragödie, Komödie, Groteske. Ein Stück voller Schuld, Sühne, Rache und Opfer. Dinge, die die Schell in ihrer Altersdemenz hatte vergessen können. Und die bei Thea immer stärker ins Bewusstsein drangen. Dann kam Miriam mit dem Tee in ihr Zimmer. »Kannst du mir den Dokumentarfilm
Meine Schwester Maria
besorgen?«, bat sie Miriam.
Kurz zögerte die Tochter. »Mama, da geht’s doch um den Verlust der Erinnerung.«
»Maria Schells Bruder Maximilian hat ein wunderbares Porträt von seiner Schwester geschaffen. Vielleicht lerne ich daraus?«
»Wenn du meinst.« Sie hatte den Tee auf den Nachttisch gestellt, etwas war übergeschwappt und in die Untertasse gelaufen.
Dieser Tee. Abend für Abend kochte Miriam ihn für sie, Thea nahm ihn mit einem Lächeln entgegen – und kippte ihn, sobald Miriam das Zimmer verlassen hatte, in den alten Krug, in dem der Rosenstrauch wuchs. Dass der noch nicht eingegangen war, überraschte sie. Aber vielleicht war das Schlafmittel gar nicht so stark, wie sie
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