Mein wirst du bleiben /
ergriffen, und ein leises Schamgefühl breitete sich in ihrer Brust aus. Sie durfte Miriam nicht brüskieren. Aber sie wollte auch nicht festgehalten werden. Nicht ruhiggestellt. Nicht wie ein kleines Mädchen behandelt werden und nicht wie eine wehrlose Frau! Nicht von Miriam. Und auch von niemandem sonst.
Nie mehr!
Miriam ließ sie los. Ihre Wangen glühten. »Wem gehört das?« Sie stieß mit dem Fuß in den Vorhang.
»Es ist … Hilde Wimmer. Ich hatte es ihr versprochen.«
»O nein!«, Miriam kickte das Stoffbündel in eine Ecke. »Das lasse ich nicht zu! Die Angst frisst dich langsam, aber sicher auf, du bist völlig durcheinander und rackerst dich noch für andere ab. Für Tote!« Dann beugte sie sich zu ihr hinab. »Du kommst jetzt mit nach oben. Hier sind zwei Menschen gestorben!« Sie griff nach Theas Hand. »Bitte, Mama! Ich habe Angst! Wir sind ganz allein hier unten!«
Thea rührte sich nicht. Ihre Gedanken kreisten.
»Glaubst du … Hältst du es für möglich, dass dein Vater noch lebt?«
Miriam zog die Hand zurück. »Was?«
»Dein Vater. Mein … mein Mann.« Ja, so musste es sein. Der Mann, den Miriam ihr auf dem Foto gezeigt hatte, der mit den verzwirbelten Augenbrauen. Er war gekommen und wollte Angst und Schrecken verbreiten. Etwas anderes durfte sie nicht denken.
Miriams Augen wurden schmal, zweifelnd, als sei Thea eine Irre. »Was ist los, Mama?«
»Du hast gesagt, er sei gestorben. An Herzlosigkeit. Wie hast du das gemeint?« Er könnte noch leben! Bestimmt lebte er! Er hatte Kontakt zu Miriam aufgenommen, und die versuchte nun, Thea und sich vor weiterem Leid zu schützen! Ja! Deshalb war Miriam auch so ängstlich, wenn sie, Thea, allein unterwegs war. Wie aus einer Ohnmacht erwachend, nahm sie den schimmligen Kellergeruch wahr, der zwischen den feuchten Wänden hing. Den Geruch nach Verwesung.
»Du glaubst mir nicht?« Miriam trat einen Schritt zurück.
»Ist er tot?«
»Es ist gut, dass er uns für immer verlassen hat«, sagte sie laut und wiederholte leise, wie für sich: »Für immer verlassen.«
Thea sackte in sich zusammen. Sie durfte nicht weiter fragen. Es spielte keine Rolle, wie schlecht es ihr selbst ging. Lange schon hatte sie geahnt, dass dieser Mann in Miriams Leben etwas zerstört, möglicherweise ein Trauma ausgelöst hatte. Sie sah die junge Frau an, die ihr heute so fremd schien wie noch nie – und doch so vertraut war. Egal, wie viel sie über Miriam zu wissen glaubte: Die entscheidenden Dinge musste sie erst noch entdecken.
Miriam ging vor ihrer Mutter in die Hocke. »Du glaubst, dass … Vater … unsere Nachbarn getötet hat?«
Sie hob die Schultern. »Ich … nein. Ich dachte nur –«
»Er ist tot, Mama!«
»Aber wer hat dann …?« Sie sah Miriams dünne, nackte Beine, ihre Rippen, die sich durch das Nachthemd abzeichneten. Sie fror.
»Du warst gestern Abend bei Frau Wimmer. Warum hast du der Polizei nichts davon gesagt? Was verheimlichst du? Es ist doch nichts dabei, sich um eine Nachbarin zu kümmern.«
»Natürlich nicht. Ich habe ihr nur vorgelesen. Als ich gegangen bin, ist sie vor dem Fernseher gesessen und hat einen Lutscher ausgepackt.«
»Lutscher!« Miriam machte eine wegwerfende Handbewegung, und Thea sah Miriam im Supermarkt vor sich, Hilde Wimmer mit den Keksen und der
Ahoi!-
Brause daneben, und hörte sie sagen: »Kindheit kann man nicht kaufen. Süßes Leben und Glück auch nicht.« Und auch keinen süßen Tod, fügte sie jetzt in Gedanken hinzu. Sie sagte: »Sie hat diesen Film ansehen wollen.
Elizabeth I.
Es war alles wie immer. Aber hätte die Polizei mir geglaubt?«
»Warum hätte sie zweifeln sollen?«
»Ich leide unter Amnesie. Ich hatte eine schwere Kopfverletzung. Vielleicht bin ich ja … verrückt?« Ja, dachte sie. Wahrscheinlich bin ich verrückt. Ich taumle wie in einem Labyrinth umher und finde keinen Ausweg. Ich suche Schlupflöcher und ende in Sackgassen. Meine Wahrnehmung zerfasert, und ich zweifle an dem, was ich sehe und tue. Aber irgendwo da draußen muss die Wahrheit liegen. Eine Träne löste sich von ihren Wimpern.
»Scht, scht.« Miriam strich ihr über die Wange.
»Er lebt, nicht wahr?« Der Mann, der seiner Tochter mit Sicherheit keine Süßigkeiten geschenkt hatte.
»Es ist alles gut. Er ist tot. Komm, ich mach dir einen Tee.«
»Nein!« Sie fuhr hoch und fiel fast dabei. »Lass mich!«
Miriam erhob sich ebenfalls. Ihre Blicke trafen sich, und für die Ewigkeit von Sekunden standen sie
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