Mein wirst du sein
erzählen, als die Radiomoderatorin einen Klassiker ankündigte, und ich lauschte gespannt. Als das Orchester die ersten Takte der Melodie spielte, verspürte ich Gänsehaut. Kylie Minogue war eine der größten und vielfältigsten Sängerinnen aller Zeiten. Und der Text ging unter die Haut. Unwillkürlich sang ich die ersten Zeilen mit.
»They call me the wild rose.« Das Timbre in Minogues Stimme war einzigartig und unerreicht. So würde ich es nie hinbekommen. »But my name was Elisa Day.«
Fanny drehte die Musik lauter, und die Geigen des Orchesters umfingen mich und gaben meinem Gesang einen Rahmen. Mit einem aufmunternden Blick warf sie mir das Mikrofon zu.
Ich zuckte mit den Achseln, warum nicht? Es war einen Versuch wert, mich an das Talent der Minogue heranzuwagen, und es war niemand hier. Nicht einmal Cosima würde mein Scheitern hören und sich lustig machen können.
»Why they call me it I do not know. For my name was Elisa Day.«
Jetzt sollte eigentlich … Eine kraftvolle Stimme fiel ein:
»From the first day I saw her I knew she was the one, as she stared in my eyes and smiled.«
Verdammt, der Kerl sah nicht nur aus wie Nick Cave, er sang auch so. Warum war mir die Ähnlichkeit nie aufgefallen? Seine Stimme jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken, sie war tief und dunkel und hatte einen herben Charme. Und er sang mit solcher Überzeugung, dass ich den Mörder deutlich vor mir sah.
Seine Augen waren schwarz wie die Nacht und funkelten mich unergründlich an. Ich bekam fast Angst, doch ich konnte nicht anders. Ich spielte das Spiel mit. Wir sangen uns von Strophe zu Strophe in einen Rausch. Alles herum schien zu versinken, es gab nur Andreas mit seinem unergründlichen Blick und mich auf der Bühne.
Am Schluss erstarben meine Worte wie meine Sängerin im Lied. Zwischen den Lippen eine rote Rose.
Fanny drehte die Musik weg. Es war still im ›Jazz-Keller‹. Die Welt hatte für einen Moment aufgehört, sich zu drehen. Bis irgendwo im Raum jemand langsam und kraftvoll zu applaudieren begann. Lou starrte uns mit offenem Mund an.
»Das machen wir«, japste er, als er die Sprache wieder gefunden hatte.
Ich legte das Mikrofon weg und vermied es, Andreas anzusehen, weil ich nicht wusste, was passieren würde, wenn unsere Blicke sich trafen. Ich fühlte mich unsicher und völlig verwirrt.
»Wir machen ein Duett mit euch.«
Lou strahlte über das ganze Gesicht und kam mit ausgebreiteten Armen auf uns zu. Geschickt wichen wir aus. Als hätten wir uns abgesprochen, Andreas nach links, ich nach rechts. Ich rannte beinahe von der Bühne, dann trafen sich unsere Blicke doch. Andreas tippte sich an die Stirn, nickte mir zu und setzte sich wieder zu Flocki. Es war, als wäre er nie aufgestanden.
Fluchtartig verließ ich den ›Jazz-Keller‹ und trat auf den Hof in das gleißende Sonnenlicht. Mir war kalt geworden, das merkte ich erst jetzt, als die wärmenden Strahlen mich umfingen.
Was war das denn eben gewesen? Was war gerade passiert? Je weiter ich mich vom ›Jazz-Keller‹ entfernte, desto surrealer kam mir das Geschehene vor.
Ich hatte ein Duett gesungen, das erste in meinem Leben. Und ausgerechnet Andreas war mein Partner gewesen. Der Andreas, von dem niemand etwas wusste. Weder wo er herkam, noch was er tat, noch wie er eigentlich richtig hieß.
Doch es war weniger die Tatsache, dass wir zusammen gesungen hatten, die mich verstört hatte, es war die Art gewesen, wie. Sein Gesang hatte mich mitgerissen, er war ehrlich gewesen. Fast hatte ich Angst bekommen, und es hätte mich nicht gewundert, wenn er mir am Ende die Hände um den Hals gelegt und zugedrückt hätte.
Gleichzeitig hatte ich mich nicht dagegen wehren können. Wie von einer unsichtbaren Macht getrieben, hatte ich weitersingen müssen, das Lied zu Ende bringen, zusammen mit ihm.
Ich schüttelte mich, um das beklemmende Gefühl loszuwerden, das mich seither gefangen hielt. Ich hatte Lou etwas versprochen. Darauf musste ich mich konzentrieren. Und auf Rafael Winter, mit dem ich verabredet war. Ihm musste ich auf den Zahn fühlen. Und Andreas und was eben geschehen war, aus meinen Gedanken verbannen.
Ich hatte nur eine ungefähre Vorstellung, was die Arbeit eines Streetworkers ausmachte. Und ich war mir sicher, dass das nichts für mich war.
Sofort wusste ich, wer Rafael Winter war. Nicht, weil er der Einzige war, der allein an einem Tisch saß. Es war auch nicht sein Aussehen, das klischeehaft sozial wirkte. Es waren seine
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