Mein wirst du sein
hinter mein Geheimnis zu blicken. Er hatte geahnt, dass es einen Grund für die Veränderung geben musste, aber auch ihn hatte ich nicht an mich herangelassen. Und schließlich hatten wir uns aus den Augen verloren.
»Heute Morgen ist am Rechen in Thalfingen eine Leiche hängen geblieben.«
»Stimmt. Wieso?« Geschäftsmäßigkeit war dem Geblödel gewichen.
»Ich ermittle in dem Fall.«
»Es gibt noch keinen Fall. Soweit ich weiß, ist die Leiche noch nicht einmal identifiziert.«
»Kannst du mir Näheres dazu sagen?«
»Fahr doch einfach hin, die Kollegen sind noch vor Ort.«
»Sie sind noch da? Klasse, dann mache ich mich gleich auf den Weg. Danke!«
»Jule ich muss dir etwas …«
Ich warf den Hörer auf das Bett und schlüpfte in das andere Hosenbein. Dann holte ich meinen Lederbeutel und verließ die Wohnung, ohne mich darum zu kümmern, was Jochen mir noch hatte sagen wollen. Es musste bis später warten.
Das Donaukraftwerk Böfinger Halde war bereits im 19. Jahrhundert gebaut worden, und der Rechen , wie er umgangssprachlich bei den Ulmern genannt wurde, sorgte dafür, dass kein Treibgut ins Kraftwerk gelangte. Es war nur wenige Kilometer von meiner Wohnung entfernt, und ich brauchte nicht einmal zehn Minuten, um dorthin zu gelangen.
Schon von Weitem sah ich das Polizeiaufgebot. Zwei Streifenpolizisten gaben sich alle Mühe, die Schaulustigen zügig vorbeizuwinken.
Das wilde Gestikulieren eines Polizisten ignorierend, setzte ich den Blinker und parkte hinter einem schicken Dreier BMW der neuesten Baureihe. Ich hatte eindeutig den falschen Beruf.
Sofort kam ein Uniformierter auf mich zu und bedeutete mir zu verschwinden. Ich drehte mich um und ging auf das Kraftwerk zu.
»Hier ist Zutritt verboten, machen Sie, dass Sie wegkommen!« Der Beamte war in Rufweite und fuchtelte wild mit den Armen.
»Kriminalkommissar Eigner schickt mich, ich ermittle in dem Fall«, log ich dreist. Mit Erfolg. Der Beamte hörte auf, mit den Armen zu wedeln.
»Wer sind Sie?«
Ich zog meinen Ausweis hervor.
»Wie gesagt, Kriminalkommissar Eigner schickt mich.« Ich nutzte einen weiteren Moment des Überlegens und schlüpfte an ihm vorbei.
Ein schmaler Aufgang führte nach oben auf das Kraftwerk. Sowohl Ulmer als auch Neu-Ulmer benutzten es als Brücke über die Donau.
Ich passierte das Gebäude, das die Technik der Anlage beherbergte. Rechter Hand staute sich das Wasser, links fiel es mit lautem Getöse in die Tiefe.
Auf der Brücke drängten sich mehrere Menschen in einer dichten Gruppe zusammen, von denen ich auf den ersten Blick nur den Staatsanwalt erkannte. Sanitäter mit einem Leichensack auf einer Bahre kamen mir entgegen. Sie stierten ausdruckslos vor sich hin.
Insgeheim war ich erleichtert, auch wenn ich das nie zugegeben hätte. Außer meinem Vater hatte ich noch nie einen toten Menschen gesehen. Ich schüttelte mich und versuchte, die Gänsehaut zu verdrängen.
Meine Sonnenbrille ins Haar schiebend, ging ich auf die kleine Menschenansammlung zu. Ich war bis auf fünf Meter herangekommen, dann kniff ich die Augen zusammen, blieb stehen und schnappte nach Luft.
Konnte das sein? War Mark Heilig zurück in Ulm? Oder täuschte ich mich, und nur die Ähnlichkeit mit ihm war frappierend?
Ich zögerte weiterzugehen. Dann sah er auf und mir direkt in die Augen. Mein Herz setzte einen Schlag aus.
Er war nicht unbedingt groß, aber schlank und drahtig gebaut. Seine schmalen Hüften und die breiten Schultern verliehen ihm ein sportliches Aussehen. Die dunklen Augen in seinem kantigen Gesicht blickten verwirrt, als überlege er angestrengt. Dann kamen das Erkennen und gleichzeitig die Ungläubigkeit.
Er löste sich aus der Gruppe und ging ein paar Schritte auf mich zu.
»Jule? Jule Flemming?«
Als er näher kam, nahm ich den vertrauten Geruch wahr. Er benutzte noch immer das gleiche Aftershave wie damals. Auch sonst hatte er sich kaum verändert. Die schwarzen Haare trug er noch immer als kurzen Bürstenhaarschnitt. Ich wusste, dass sie sich stachelig und gleichzeitig weich anfühlten. Die vergangenen Jahre hatten ihm nichts anhaben können. Weder hatte er graue Haare bekommen, noch waren die Fältchen um seine Augen und den Mund sehr tief.
Ich nickte nur und fragte mich, was er gerade dachte. Ob er sich an unsere wilde Knutscherei auf der Party erinnerte? Das war acht oder neun Jahre her. Augenblicklich wurde mir warm bei dem Gedanken daran.
»Wie siehst du denn aus?« Die Frage war eine Mischung aus
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