Mein wundervolles Genom
wirklich einen Volltreffer gelandet: die Mutter Alkoholikerin, der Vater von der Bildfläche verschwunden, ihr Stiefvater missbrauchte sie von klein auf sexuell. Die beiden hatten mit anderen Worten eine grauenhafte Kindheit. 24 Doch als junge Erwachsene schien Tichelle aufzublühen. Sie schloss die Schule mit guten Noten ab, und ihr Leben mit einem Bürojob und als Mutter verlief alles in allem erfolgreich. Ihre große Schwester La’Tanya hingegen hatte es schwer. Auch sie war Mutter und hatte einen Beruf – Krankenpflegehelferin –, aber von Zeit zu Zeit stürzte sie in tiefe Depressionen. Sie litt an Panikattacken, wechselte oft den Arbeitsplatz und hatte generell Schwierigkeiten, mit den Anforderungen des Alltags fertig zu werden.
Irgendwann ließen die beiden Schwestern auf Anregung eines Reporters ihre Gene testen. Die zähe Tichelle hatte zwei Kopien der langen SERT-Variante, die zerbrechlichere La’Tanya hingegen eine lange und eine kurze. »Es geht mir ein bisschen besser, seit ich weiß, dass es einen Grund, noch einen Grund, gibt, warum mein Leben schwer ist«, sagte La’Tanya, als sie die Ergebnisse erfuhr. »Und ich verstehe, dass das, was ich trotzdem für meine Kinder tun kann, gut ist. Es ist gut.«
Kein Verhaltensgenetiker würde behaupten, dieser kleine Unterschied allein sei die entscheidende Ursache für die Lage der beiden jungen Frauen. Aber es ist wahrscheinlich ein Puzzleteil, und La’Tanya nutzt dieses Wissen, um sich selbst zu verzeihen, dass sie so kämpfen muss; es geht ihr, ganz einfach gesagt, damit besser. Man könnte auch sagen, sie stützt sich auf eine molekulare Krücke.
Für mich stellt sich die Frage, ob eine solche Krücke nicht manchen helfen könnte, vorwärtszukommen. Oder anders formuliert: ob man genetisches Wissen nicht als Hebel nutzen kann, um sich zu verändern. Wir wissen zwar, dass die Persönlichkeit, statistisch betrachtet, grundsätzlich ziemlich stabil ist, aber, wie Henrik Skovdahl Hansen auch betont hat, große Veränderungen sind möglich, wenn jemand wirklich daran arbeitet. Dann kann die Statistik bedeuten, dass die meisten Menschen es nur nicht der Mühe wert finden, den Versuch zu unternehmen, ganz nach dem Motto: »Ich bin wunderbar, so wie ich bin.« Oder sie versuchen nicht ernsthaft genug, sich zu ändern.
Doch die Chancen für eine Veränderung stehen umso besser, je mehr wir über die Voraussetzungen der Persönlichkeit wissen. Und eine ganze Reihe Voraussetzungen sind in unser genetisches Erbe eingeprägt. Wenn ich weiß, dass es Genvarianten gibt, die wahrscheinlich meine Reaktionen auf Stress steigern, kann ich diese Information auf verschiedene Weise nutzen. Ich kann es zum Beispiel machen wie La’Tanya und mich darauf konzentrieren, besser mit meinen Unzulänglichkeiten umzugehen. Daran ist nichts falsch. Aber vielleicht muss ich mit Stress verbundene Situationen auch gar nicht meiden, sondern kann mir vielmehr überlegen, wie ich besser darauf reagiere. Wenn es zu schlimm wird, kann ich mir sagen, dass es nicht unbedingt an der Welt liegt,sondern an meinem Gehirn, das – zum Teil infolge genetischer Einflüsse – die Welt nun mal so und nicht anders sieht.
Einen Anhaltspunkt dafür finde ich in einer neuen Studie von Dina Schardt und Kollegen von der Universität Bonn, die sagen, »genetisch prädisponierter neuronaler Verarbeitung kann durch willentliches Handeln entgegengewirkt werden«. 25 Ihren Forschungen zufolge ist es möglich, das hypersensible emotionale Gehirn durch kognitive Kontrolle in den Griff zu bekommen. Angeregt durch ältere Erkenntnisse, dass bei Trägern der kurzen, »sensiblen« SERT-Variante der Mandelkern stärker reagiert, wenn man sie mit etwas Beängstigendem konfrontiert, führte ihr Forscherteam eine Untersuchung mit siebenunddreißig Frauen durch. Bei allen wurde die SERT-Variante bestimmt, dann schob man sie in einen Magnetresonanztomografen und zeigte ihnen eine Reihe standardisierter Bilder, die entweder neutral waren oder angsterregend. Genau wie Daniel Weinberger und andere beobachtet haben, reagierten die Trägerinnen der kurzen SERT-Variante viel stärker auf die Angstreize als die anderen. Aber das änderte sich bei den nächsten MRT-Aufnahmen, als die Frauen aufgefordert wurden, die Bilder nicht nur anzuschauen, sondern sich willentlich von dem Anblick zu lösen – wie das geht, hatten sie zuvor gelernt und geübt. Konfrontiert mit den ängstigenden Bildern, konnten sowohl die genetisch
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