Mein wundervolles Genom
unterhalten konnten, obwohl ich noch ein Kind war. Sicher gab es eine ganze Reihe belastender Ereignisse in meiner Kindheit, aber es gab auch die verlässliche Beziehung zu meinem Vater. Ich könnte es bedingungslose Liebe und Fürsorge nennen, aber »warme Freiheit« ist wirklich eine sehr treffende Bezeichnung.
»Wie kann ich dir Vorschriften machen, wo du doch viel vernünftiger bist als ich«, sagte er einmal zu mir. Ich war damals in der dritten Klasse, und es gab tatsächlich keine Verbote: keine festen Schlafenszeiten, keine Vorschriften, wann ich zu Hause sein musste, keine Fernsehsendungen, die ich nicht anschauen durfte. Mein Vater meinte, solche Dinge könne seine vernünftige Tochter leicht selbst regeln. Und wenn mein Selbstmanagement einmal schiefging, konnte er immer noch mit sanfter Ironie eingreifen.
Zum Beispiel wurde ich in der fünften Klasse einmal mit einer Freundin und Komplizin erwischt, als wir eine Kleinigkeit in einem Ladenklauten; die Ladenbesitzerin hielt uns fest und verlangte, dass wir unsere Eltern anriefen. Natürlich riefen wir meinen Vater an; der kam, holte uns und redete die wütende Frau in Grund und Boden. Als meine Freundin in Tränen ausbrach und schluchzte, ihre impulsive Mutter werde ihr den Kopf abreißen, fuhr mein Vater sie nach Hause und redete auch ihre Mutter in Grund und Boden. Auf dem Weg dorthin praktizierte er im Auto seine eigene Form der Pädagogik: »Ich hoffe, ihr beide habt begriffen, wie dumm es ist, Schokoriegel und bunte Radiergummis zu klauen. Wenn ihr einen schicken Fernseher oder eine Stereoanlage von Bang & Olufsen hättet mitgehen lassen, wäre das ja noch einzusehen, aber Schokoriegel und Radiergummis sind einfach nur peinlich.«
Meine schniefende Freundin auf dem Rücksitz war sprachlos, und wieder einmal bestätigte sich, dass mein Vater der tollste Erwachsene auf der Welt war. Heute kann ich nur spekulieren, ob er mich wirklich vor den schlimmsten Auswirkungen der sensiblen Gene, die ich von beiden Elternteilen geerbt habe, bewahrt hat. Vielleicht sind die empfänglichen Varianten doch nicht solche genetischen Geschosse, wie es scheint, sondern mindestens in meinem speziellen Fall hilfreich. Cecilie Licht sagt etwas, was ich auch denke: »Es ist gut möglich, dass Sie mit Ihren sensiblen Varianten besser zurechtgekommen sind, als Sie mit robusteren zurechtgekommen wären.«
Das kann sein, ja, aber niemand kann es mit Sicherheit sagen. Die Verhaltensgenetik kann interessante Hinweise liefern, doch noch immer kratzt die Forschung nur an der Oberfläche. Da wir noch so wenig wissen, was bedeutet die Information für uns heute und jetzt?
»Die individualisierte Genomanalyse hat noch einen langen Weg vor sich, bis sie zu einem wichtigen Werkzeug der Selbsterkenntnis wird«, schreibt der Psychologe Steven Pinker. 23 Und er hat recht in dem Sinn, dass die molekularen Antworten uns nicht mit neuen Persönlichkeitszügen überraschen werden, von denen wir noch nichts wussten.
Ich lebe nun seit über vierzig Jahren mit mir und kenne die Fehler und Anfälligkeiten meines Charakters sehr wohl. Stress zum Beispiel.Schon bevor ich einen Persönlichkeitstest und eine Genanalyse machte, wusste ich, dass meine Art des Umgangs mit Stress und Belastungen nichts ist, worauf ich stolz sein kann. Ich arbeite seit über zehn Jahren als Journalistin und habe immer noch chronisch Schwierigkeiten, Termine einzuhalten. Während das meine hartleibigeren Kollegen nicht weiter aufregt, blockiere ich regelrecht, wenn plötzlich Termindruck entsteht, und verwandle mich innerhalb von Sekunden von einer stabilen Erwachsenen in ein hysterisches Wrack.
Welchen Unterschied würde es also machen, wenn ich von einer exotischen Genvariante erfahre, die auf das Serotoninsystem Einfluss hat? Ich weiß nicht recht, ob ich Pinker bei diesem Punkt zustimme. Selbst jetzt – trotz all der Unsicherheit und dem unzulänglichen Wissen – macht es einen Unterschied bei der Selbsterkenntnis. Es vermittelt eine biologische Bewusstheit, die sehr wohl das eigene Selbstbild betreffen kann.
Ich krame einen Artikel aus einer alten New York Times hervor, den ich einmal ausgeschnitten und inzwischen fast vergessen habe; der Inhalt hat eine neue Bedeutung bekommen. Es ist ein Bericht über zwei amerikanische Schwestern, Tichelle und La’Tanya, und darüber, wie ihr gemeinsamer Ausgangspunkt in vollkommen unterschiedliche Schicksale mündete. Die Mädchen hatten bei der Auswahl ihrer Eltern
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