Mein wundervolles Genom
lehnt sie sich nach vorn und presst beide Hände an die Schläfen.
»Ich wundere mich immer wieder, aber wenn ich Vorträge über Genetik und Persönlichkeit halte, sind jedes Mal Zuhörer dabei, die sich aufregen. Sobald die Leute die Worte ›erblich‹ und ›genetisch‹ hören, wird daraus in ihren Köpfen automatisch ›unveränderlich‹, und das ist nun überhaupt nicht die Botschaft. Die Persönlichkeit ist ein Produkt von Genen und Umwelt, und natürlich können wir nicht frei wählen, wer wir sind, aber wir haben doch einigen Spielraum. Das ganze Leben lang.«
Von der Tür kommt ein dezentes Husten, und Cecilie Licht schwenkt die Auswertung meines Fragebogens. Mit leiser Stimme versichert sie mir, dass ich mich zuverlässig zu den Hochsensiblen rechnen kann.
In den Tagen nach meinem Besuch in der grauen Villa inmitten der Betonklötze der Universitätsklinik von Kopenhagen verdaue ich die Informationen, die ich dort erhalten habe. Auf den ersten Blick sieht es wie ein Katalog ungünstiger Genvarianten aus.
Ich kann sie an den Fingern abzählen. Da ist das COMT-Gen, bei dem ich eine doppelte Dosis der »Krieger«-Variante abbekommen habe, weshalb mein Gehirn schlecht mit emotionalem Stress umgehen kann, und da sind meine BDNF-Varianten, die meine Reaktion auf Stress nach oben regulieren. Schlechte Kombination. Zu all dem habe ich noch zwei Kopien der weniger effizienten MAOA-Variante, die zu aggressivem und impulsivem Verhalten prädisponiert – oder bei Frauen zu Depressionen. Und ich bin noch mit zwei Kopien der kurzen SERT-Variante belastet, eine berüchtigte Garantie für seelische Verletzlichkeit und Neigung zu Depressionen. Wenn man alles zusammen betrachtet, klingt es wie das Rezept für eine wandelnde seelische Wunde. Oder wie mein Freund es ausdrückt: »Erstaunlich, dass du nicht schon in der geschlossenen Abteilung gelandet oder Frührentnerin bist.«
Man muss sich beständig daran erinnern, dass genetische Studien ein ordentliches Maß an Unsicherheit enthalten und nur einen statistischen Extrakt der Realität liefern. Es ist nicht gesagt, dass die Ergebnisse zwingend auf mich oder sonst jemanden, der einen Gentest machen lässt, zutreffen. Trotzdem sieht es sehr danach aus, dass ich in der Genlotterie eine Niete gezogen habe, zu den Menschen gehöre, denen das Schicksal aus Böswilligkeit eine Überdosis Sensibilität und Risiko in ihrer biologischen Ausstattung mitgegeben hat.
Aber ganz so schlimm ist es dann doch nicht. Wie Gitte Moos Knudsen sagte, haben die Wissenschaftler eine neue Art entwickelt, wie sie das Phänomen der genetischen Sensibilität interpretieren.
In den früheren Zeiten der Verhaltensgenetik hat man sich ganz auf die Verletzlichkeit konzentriert, und die Forscher richteten das grelle Scheinwerferlicht auf die armen Pechvögel, die ungünstige Gene geerbt hatten, dazu noch eine schreckliche Kindheit durchleben mussten und damit unweigerlich ihr Leben lang Opfer seelischer Krankheiten waren. Aber wie Jay Belsky, Kinderpsychologe an der Londoner Birckbeck University, betont, ist das nicht das ganze Bild.
Belsky argumentiert, wir sollten nicht von Verletzlichkeit sprechen, sondern von Empfänglichkeit – oder, noch präziser, von Plastizität. Wenn es um Gene wie SERT und MAOA gehe, müsse man bei Varianten, von denen es bisher geheißen habe, sie würden eine Person »verletzlich« machen oder »ein Risiko« bedeuten, umdenken: Sie machten die betreffende Person (und ihr Nervensystem) empfindlicher und flexibler in der Reaktion auf wichtige Informationen aus ihrer Umwelt. 20 Diese Sensibilität wiederum bewirke, dass jemand nicht nur empfänglicher für negative, sondern genauso für positive Einflüsse sei – diese genetische Disposition ist nicht eindimensional, sondern hochgradig plastisch.
Das Bezugssystem von Verletzlichkeit und Risiko war bisher so absolut, dass ansonsten hervorragende Forscher die Plastizität übersehen haben, wenn sie in ihren Beobachtungen auftauchte. Belsky und seine Kollegen durchkämmten gründlich die Daten bekannter Studien, auch die Forschungen von Avshalom Caspi und Terrie Moffitt im neuseeländischen Dunedin, und entdeckten dabei etwas sehr Interessantes: Zwar stimmt es, dass die »verletzlichen« Varianten von SERT und MAOA das Risiko für Depressionen und Verhaltensprobleme erhöhen, wenn Vernachlässigung des Kindes oder sogar Gewalt hinzukommen, aber auch das Umgekehrte gilt: Bei einer normalen Kindheit haben die Träger
Weitere Kostenlose Bücher