Mein wundervolles Genom
leckten und unzureichend Fellpflege bei ihnen betrieben – veränderte Stressreaktionen zeigten. Szyf sah, dass die vernachlässigten Rattenbabys viel furchtsamer waren als die Nachkommen guter Mütter. Wenn die ängstlichen Ratten dann selbst Nachwuchs bekamen, vernachlässigten sie ebenfalls ihre Babys, während die Töchter guter Mütter selbst großartige, aufmerksame Mütter wurden. Das Verhalten war nicht ererbt, sondern ein direktes Resultat der Art und Weise, wie sie aufgezogen worden waren. Wenn man die Neugeborenen ihren Müttern wegnahm und gute und schlechte Mütter vertauschte, entwickelten sich die Babys entsprechend dem Verhalten ihrer Adoptivmütter. Das war ein Beweis für eine direkte Wirkung der Umgebung.
Wie sich die Umgebung ausgewirkt hatte, wurde offenbar, als Szyf und seine Kollegen die erwachsenen Ratten töteten, ihre Gehirne entnahmen und sie untersuchten. Dabei stellten sie fest, dass eine schlechte Kindheit dauernde Spuren in dem Bereich des Gens für den sogenannten Glukokortikoidrezeptor hinterlassen hatte – der bei Ratten wie bei Menschen eine sehr große Rolle für die Regulierung der Reaktionen auf Stress spielt, denn er hilft die Bildung von Stresshormonen zu verhindern, wenn wir unter Druck sind. Szyf entdeckte nun, dass dieses Gen bei den vernachlässigten Ratten durch angehängte Methylgruppen komplett blockiert war. Die Vernachlässigung der Eltern hatte offensichtlich bestimmte Gene in den Gehirnzellen der Ratten abgeschaltet, auch wenn die Ratten ansonsten robuste Gene hatten. 2
Das Team um Szyf interessierte sich auch dafür, ob das genauso für Menschen galt, denn man weiß seit langem, dass Kinder, die Vernachlässigung, Missbrauch oder Gewalt erlebt haben, als Erwachsene anormale Stressreaktionen aufweisen. Sie haben außerdem unter anderem ein erhöhtes Risiko für Depressionen und Suizid. Die Forscher sahen eine Chance, eine direkte Erklärung dafür zu finden, woher die Anfälligkeit für psychische Erkrankungen kommt. Das Problem dabei: Sie brauchten Gehirnzellen.
Also wandte sich Szyf an die lokale Gehirnbank – die Quebec Suicide Brain Bank – und fragte, ob er Gewebeproben von Menschen bekommen könnte, die Selbstmord begangen hatten und als Kinder misshandelt worden waren. Er bekam sie. Zunächst erhielten Szyf und sein Team Proben von zwölf Suizidopfern, die alle in der Kindheit sexuellen Missbrauch, anhaltende Gewalt oder grobe Vernachlässigung erfahren hatten. Die Forscher verglichen diese Gewebe mit denen von zwölf Personen im selben Alter, die unverschuldet bei Unfällen gestorben waren. Sie stellten klare Unterschiede bei beiden Gruppen im Hippocampus fest. Bei den als Kind misshandelten Personen war das Gen für den Glukokortikoidrezeptor durch Methylierung abgeschaltet worden – genau wie bei den Ratten. Sie fanden auch sehr viel weniger RNA dieses Gens, ein deutlicher Hinweis, dass es weniger aktiv war.
Nun stellte sich die Frage, ob die genetische Veränderung mit den frühen Misshandlungen zusammenhing oder damit, dass die betreffenden Personen so deprimiert waren, dass sie sich umbrachten. Szyf bat um weitere Gehirnzellen von zwölf Suizidopfern, die nur deprimiert gewesen waren und keine Misshandlung in der Kindheit erlebt hatten. Und es zeigte sich, dass sich diese Gruppe nicht von der Kontrollgruppe der Unfalltoten unterschied. Die spezielle epigenetische Veränderung des Glukokortikoidrezeptors im Hippocampus war wie eine Signatur der Misshandlung, der schmutzige Fingerabdruck der Gewalt im Gehirn des Opfers. 3
Es gibt eine ähnliche Signatur der Depression – genauer gesagt, der Depression der Mutter. Man weiß, dass Kinder depressiver Mütter ein erhöhtes Risiko haben, selbst an wiederkehrenden Depressionen zu leiden; lange Zeit führten die Psychiater dies darauf zurück, dass das depressive Verhalten erlernt würde. Aber wie es aussieht, lässt sich die besondere Anfälligkeit schon viel früher nachweisen: im Embryo.
Nach Forschungen von Tim Oberlander von der University of British Columbia hat es eine epigenetische Wirkung auf den Glukokortikoidrezeptor des Kindes, wenn eine Frau in den letzten drei Monaten der Schwangerschaft eine Depression durchmacht. 4 Die Folge ist die gleiche Signatur wie bei Szyfs Suizidopfern, nur dass man diesmal Zellen aus der Nabelschnur für den Nachweis verwendete. Als Oberlanderund seine Kollegen später die drei Monate alten Kinder testeten, stellten sie fest, dass sie bei Stress signifikant
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