Mein wundervolles Genom

unserem Gesundheitssystem, wenn wir Scharen von Leuten zu allen möglichen Tests beraten müssen, die sie bei irgendeiner privaten Firma haben machen lassen und nicht selbst interpretieren können? Wohin wird das führen?«
    Auf die Schnelle kann ich das nicht beantworten, aber ich verstehe ihren Einwand. Noch ist die weitere Entwicklung unklar, doch im Gesundheitssystem muss eindeutig etwas passieren, weil eine neue Realität es überschwemmt.
    Die individualisierte Genanalyse befindet sich noch im Embryonalstadium; es ist leicht, die bestehenden Tests und Genprofile zu kritisieren, weil sie zu wenig verwertbares Wissen liefern. Aber wir haben erst die Spitze des Eisbergs vor uns. Die Forschung – zumindest die staatliche Forschung – zielt darauf ab, eine personalisierte Medizin zu entwickeln, das heißt, Prävention und Behandlung, die genau auf die Physiologie eines bestimmten Menschen zugeschnitten sind. Langfristig wird es selbstverständlich werden, Informationen und Dienstleistungen zu nutzen, die auf genetischen Erkenntnissen aufbauen – sowohl in der Diagnose wie in der Therapie. Aber diese Nutzung wird für einen großen Teil der Öffentlichkeit direkt stattfinden – auf Initiative des Betreffenden und unabhängig von Ärzten und Krankenhäusern. Es ist ein privater Markt, die Preise fallen rasch, und das Angebot wird immer umfangreicher werden. Wenn Sie dann noch mit bedenken, dass das Ganze im Internet passiert, erhalten Sie eine sehr wirkmächtige Mischung.
    Es wird nicht nur so sein, dass jeder seine Informationen über Krankheiten und ihre Behandlung aus dem großen, allwissenden Web bezieht, sondern es wird Dienstleistungen geben wie Microsoft Health Vault und Google Health, wo Sie sich ein Benutzerkonto einrichten und eine elektronische Gesundheitsakte führen können. Wenn Sie krank werden, gibt es Organisationen wie PatientsLikeMe, in denen sich Tausende Patienten mit bestimmten chronischen Krankheiten zu einem sozialen Netzwerk zusammengeschlossen haben. Und diese Leute verbringen ihre Zeit nicht nur mit Plaudern. Sie beobachten ihre Symptome und den Verlauf ihrer Krankheit professionell, nehmen Kontakt zu Forschern auf, experimentieren mit Behandlungen und geben sich gegenseitig Ratschläge. Manchmal initiieren sie sogar eigene Forschungsprojekte komplett außerhalb des Gesundheitssystems.
    Patienten sind heute nicht mehr das, was sie einmal waren, und damit hat sich auch die Rolle des Arztes verändert. Anders als in der guten alten Zeit, als die Ärzte Halbgötter in Weiß waren, die unangefochten den Kurs Ihrer Behandlung bestimmten, wird der Arzt der Zukunft ein Servicetechniker sein. Ein Vermittler in weißem Kittel, der die Autorisation besitzt, die Leistungen des Gesundheitssystems zur Verfügung zu stellen, der aber in vielen Fällen auch nicht mehr weiß als der Patient – vielleicht sogar weniger. In den Vereinigten Staaten gibt es derzeit eine heftige Debatte, was man gegen die Ignoranz der Ärzte unternehmen soll, die sich nicht um Genetik kümmern. Studien zeigen, dass die meisten »gewöhnlichen« Ärzte nicht genug über Genetik wissen, um ihre Patienten über Gentests beraten zu können, und speziell ausgebildete genetische Berater sind rar. Allerdings gehört dieses Berufsfeld zu den am schnellsten wachsenden weltweit.
    »Wohin wird das führen?« Die Frage der Chefärztin klingt mir noch in den Ohren. Ich beschließe, mich auf die Suche nach den Menschen zu machen, die aufgrund ihres Wissens etwas dazu sagen können: denen, die die Entwicklung vorantreiben. Zufällig veranstalten die in der Entstehung begriffene Branche und einige ihrer innovativsten Forscher in Kürze die weltweit erste Konferenz über Konsumgenetik. Also kaufe ich mir ein Flugticket nach Boston. Ich will mir anhören, was sie zu sagen haben.

4 Die Revolutionäre der Forschung
    Die Revolution ist nicht wie ein Apfel, der vom Baum fällt, wenn er reif ist. Man muss dafür sorgen, dass er fällt.
    Che Guevara
    Ich bin im weitläufigen Hynes Convention Center und nehme an der ersten internationalen Consumer Genetics Show teil, bei der Firmen ihre genetischen Angebote vorstellen. Es herrscht eine Atmosphäre der Atemlosigkeit. Ich würde die Klimaanlage dafür verantwortlich machen, die Eiseskälte verbreitet, aber es ist offensichtlich, dass jeder hier das Gefühl hat, der Geburt von etwas Großartigem beizuwohnen.
    »Das ist Konsumgenetik aus jedem denkbaren Blickwinkel«, sagt der Organisator der