Mein wundervolles Genom
King’s College in London, nach Genen für hohe und niedrige Intelligenzquotienten, und er hat nichts gefunden. Überhaupt nichts. In ihrer letzten Studie haben Plomin und seine Mitarbeiter alle rund sechstausend zwischen 1994 und 1996 geborenen britischen Zwillinge untersucht; sie beobachteten sie über Jahre und wandten alle möglichen Messverfahren an. Mit Genchips verglichen sie eine halbe Million SNP-Marker bei Kindern mit hohem IQ und solchen mit niedrigem IQ. Der einzige Unterschied, den die rigorosen statistischen Verfahren zutage förderten, war ein Marker auf einem Gen, dessen Funktion man nicht kennt – und den Berechnungen zufolge kann dieser Marker gerade einmal einen halben Prozentpunkt beim IQ erklären. 14
»Das ist natürlich ein bisschen enttäuschend«, sagt der Amerikaner Plomin mit erworbenem britischem Understatement, als ich ihn in seinem Labor im Londoner Vorort Brixton aufsuche. Doch trotz der Enttäuschung ist er guter Stimmung, denn er hat gerade begonnen, um Unterstützung für eine Untersuchung an zehntausend Kindern aus ganz Europa zu werben. Seine Erwartungen sind niedrig. Wie Plomin es ausdrückt: »Vielleicht können wir in den nächsten fünf Jahren zwischen 3 und 5 Prozent der Varianz bei der Intelligenz erklären, und möglicherweise kommen Hunderte von Genen dabei ins Spiel.«
Also, was ist schiefgegangen? Es könnte sein, wie Dean Hamer vor einigen Jahren in einem Kommentar in Science geschrieben hat, dass die Forscher bei der Verhaltensgenetik ihren gesamten Ansatz überdenken müssen. Hamer meint, sie müssten sich von dem klassischen Modell lösen, das eine einfache lineare Beziehung zwischen Genen und Verhalten postuliert: Ein bestimmtes Gen führt direkt zu einem bestimmten Verhalten. Mit anderen Worten: Gene codieren nicht für Verhaltensweisen, sie codieren nur für Proteine. Dazwischen befindet sicheine Blackbox, in der ganze Netze von Genen mit Umweltfaktoren und der physiologischen Entwicklung des Gehirns zusammenspielen; erst daraus wird dann das, was wir »Verhalten« nennen. Die Forscher müssen folglich versuchen, einen Blick in diese Box zu werfen.
Und daran arbeiten sie. Aktuelle Studien haben sich auf die Frage konzentriert, wie Gene mit bestimmten Umweltgegebenheiten interagieren; dabei haben sie das Modell der Erforschung von Krankheiten angewendet. Sie schauen sich an, welche Gene für eine Krankheit sensibilisieren oder prädisponieren, und dann suchen sie Faktoren in der Lebensweise oder Umwelt, die diese Disposition oder Sensibilität verstärken.
Ein Forscherpaar hat sich in dieser Richtung der Verhaltensgenetik einen Namen gemacht: Das Ehepaar Avshalom Caspi und Terrie Moffitt, zwei Psychologen, die am King’s College in London und an der Duke University in North Carolina arbeiten. Kurz nach der Jahrtausendwende eroberten sie die Psychiatrie im Sturm. Caspi und Moffitt bekamen Zugang zu einer wahren Goldmine: den Daten von fast zehntausend neuseeländischen Männern, deren psychische und soziale Entwicklung vom Kindergartenalter an über mehr als zwanzig Jahre beobachtet worden war. Die Forscher suchten bei den Erwachsenen nach »antisozialem« Verhalten, definiert als Probleme mit Aggression, Gewaltkriminalität und dergleichen. Der nächste Schritt bestand darin, Gentests durchzuführen, um herauszufinden, ob es eine Verbindung zwischen antisozialem Verhalten und MAOA-Genvarianten gab.
Es gab keine. Allein anhand der MAOA-Gene eines Menschen ließ sich definitiv nicht sagen, ob er Probleme haben würde oder nicht. Aber ein anderer Faktor tauchte auf: Männer, die von beiden Elternteilen die Genvariante mit geringer Enzymaktivität geerbt hatten, entwickelten mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit problematische Verhaltensweisen, wenn sie außerdem misshandelt worden waren und insofern negative Erlebnisse in der frühen Kindheit hatten. Nicht auf das Gen allein kam es an, sondern die explosive Mischung aus biologischem Erbe und Kindheitserfahrungen führte später zu Aggression.
Ein Jahr danach untersuchten Caspi und Moffitt in einer ähnlichen Studie einen möglichen Zusammenhang von SERT-Varianten und Depression. Die Forscher zählten, wie viele besonders belastende Lebensereignisse in den letzten fünf Jahren jemand angegeben hatte, und fragten, ob die Betreffenden im selben Zeitraum einmal depressiv gewesen waren. Die Häufigkeit, mit der Depressionen berichtet wurden, hing davon ab, welche SERT-Varianten die Männer hatten. Von den Männern
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