Mein wundervolles Genom
einen Spezialisten, der weit weg wohnte, und zwei Jahre lang wurde meine Großmutter einmal wöchentlich zu ihm gefahren. Das half. Ich erinnere mich nur vage an die Großmutter – sie starb, noch bevor ich in die Schule kam –, aber in meiner Erinnerung war sie eine liebevolle und starke Person, eine Frau, die sich nach fünfzig Jahren nicht mehr herumkommandieren ließ und die nicht bereit war, nach jedermanns Pfeife zu tanzen.
Vermutlich hat meine Großmutter ihre Neigung zur Melancholie an ihre Tochter, meine Mutter, weitergegeben. Ihr setzte die Krankheit ihrer Mutter sehr zu. Sie verließ die Oberschule, obwohl bis dahin alles glatt gegangen war, und lebte zwei Jahre allein mit ihrem Vater. In der Zeit aß sie praktisch nichts und entwickelte eine Stoffwechselstörung. Nie verwendete sie das Wort »Depression«, aber wenn sie von ihrer frühen Jugend erzählte, klang es unmissverständlich nach einer langen depressiven Episode. Später kehrte die Krankheit mit solcher Wucht zurück, dass für mich über der Erinnerung an ihre letzten Jahre ein bleibender Schatten liegt.
Und nun sitze ich hier im Zug nach Richmond, fröstele in der von der Klimaanlage erzeugten Eiseskälte wie ein frisch geschorenes Lamm und bin glücklich. Richtig glücklich. Im Vergleich zu den Generationen vor mir habe ich es unglaublich leicht gehabt. Meine Jugend war nicht katastrophal, sondern einfach im normalen Maß schrecklich. Was die Depressionen anbetrifft, kann ich nur mit drei leichten Episoden aufwarten. Außerdem lebe ich in einer Zeit, in der man Depressionen nicht nur ziemlich gut behandeln kann, sondern auch tief in sie eintauchenund dieses fremdartige und belastende Erbe verstehen kann, ein Erbe, das die Menschen früher möglichst ignorieren wollten.
In Richmond regnet es, ein beharrliches Tröpfeln, das für sich schon düster wirkt und auch alles trostlos aussehen lässt. Oder besser gesagt: noch trostloser. Denn die Virginia Commonwealth University befindet sich in einem ziemlich hässlichen Teil der Stadt. Die Gebäude sind neu und langweilig, umgeben von bröckelnden zweistöckigen Ziegelhäusern und pleitegegangenen Erdgeschossläden mit zugenagelten Fenstern und Türen. Das Viertel, das Wetter – es kann einen depressiv machen.
In der West Avenue wird es schlagartig anders. Auf einmal befindet man sich in einer typisch amerikanischen Kleinstadt, die Häuser haben Schindeldächer und üppige Gärten, die Straßen sind von Bäumen gesäumt. Ich sehe Kenneth Kendler am großen Fenster seines Hauses. Gleich nach der Begrüßung sprudelt es aus ihm heraus.
»Sie haben doch sicher die New York Times von heute gelesen?«
Ich zeige ihm die Titelseite meiner Washington Post.
»Ja, die gleiche Story, und ich habe schon zwanzig E-Mails dazu bekommen.« Wir blicken beide auf die Schlagzeile: »Meldungen über Depressionsgen widerlegt«.
»Hervorragend, ganz hervorragend«, sagt Kendler hauptsächlich zu sich selbst. »Gehen wir hinein.«
Man erkennt sofort, dass hier eine kultivierte Familie lebt. Das Zimmer ist mit antiken Möbeln und alten Originaldrucken aus Indien dekoriert. Über dem Wohnzimmertisch hängt ein großes Farbfoto einer jungen Frau, die eindeutig in die Gegenwart gehört, aber in der Pose einer Renaissancegestalt aus dem 17. Jahrhundert in Holland dargestellt ist. Ein seltsam grüblerisches Porträt.
»Meine Tochter«, erklärt Kendler. »Sie studiert Kunst. Es ist ein Selbstporträt.«
Konventionellere Fotos von ihr und Kendlers beiden erwachsenen Söhnen hängen auch im Flur, und dort entdeckte ich ebenfalls ein Foto der Eltern in jungen Jahren. Es könnte aus den 1970er Jahren sein, aberKendler sieht fast unverändert aus. Der einzige Unterschied ist, dass seine Haare und sein Bart nicht mehr schwarz sind, sondern grau. Genau wie bei unserer letzten Begegnung erinnert er mich an einen nachdenklichen Rabbi. Vielleicht liegt es an dem etwas eulenartigen Blick aus runden Brillengläsern, oder daran, wie er mit leiser, eindringlicher Stimme und beinahe übertrieben klarer Artikulation spricht. Kendler ist ein sehr ruhiger, höflicher Mann. »Quatsch« ist das schlimmste Schimpfwort, das ihm über die Lippen kommt, und selbst das geschieht nur selten.
»Ich bin in einer jüdischen Gemeinschaft außerhalb von New York aufgewachsen, auf Long Island«, erzählt er. »Es war alles sehr traditionell, bis ich als Jugendlicher nach Kalifornien gekommen bin. Da ging es dann anders zu mit Drogen und
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