Mein wundervolles Genom
mit zwei Kopien der kurzen Variante, die in den letzten fünf Jahren mehr als vier belastende Ereignisse erlebt hatten, hatte fast die Hälfte eine Depression durchgemacht. Hingegen war unter den Männern mit derselben Anzahl belastender Lebensereignisse, aber mit zwei langen SERT-Varianten, nur jeder Vierte depressiv geworden.
Und wieder zeigten Misshandlungen in der Kindheit eine eindeutige Wirkung. Für die Männer mit zwei kurzen SERT-Varianten stieg das Risiko, als Erwachsene eine Depression zu erleiden, stark an – auf bis zu zwei Drittel der Gruppe –, wenn es Misshandlung in der Kindheit gegeben hatte. Bei den Männern mit zwei langen SERT-Varianten erhöhte Misshandlung in der Kindheit das Risiko für eine spätere Depression nicht. Die kurze SERT-Variante verursachte eine erhöhte Anfälligkeit für Depressionen, und eine schwere Kindheit steigerte diese Anfälligkeit noch weiter.
Über Depression denke ich nach, als ich im Zug von Washington DC nach Richmond in Virginia sitze. Ich bin auf dem Weg zu Kenneth Kendler, einem psychiatrischen Epidemiologen und seit 1983 Professor an der Virginia Commonwealth University. Ich habe schon früher einmal mit ihm gesprochen. Vor vielen Jahren hat er mir mal in einem schicken Restaurant in Kopenhagen ein Interview gewährt. Während ich mir damals ein großes, sehr blutiges Steak schmecken ließ, war Kendler bei seiner vegetarischen Ernährung geblieben.
Die Fahrt ist ein typisches Erlebnis mit der Bahngesellschaft Amtrak. Es dauert elend lang, der Zug bewegt sich im Schneckentempo, und in den Waggons ist es als Kontrast zu den schwülen Junitemperaturen draußen eiskalt. Der Ausblick aus dem Fenster ist immer gleich grün,so bleibt mir nicht viel anderes übrig als zu lesen. Zu meiner Unterhaltung habe ich die Auswahl zwischen Physiological Medecine, dem Journal of the American Medical Association, General Archives of Psychiatry und dem American Journal of Psychiatry. Ich blättere die Zeitschriften durch, da fällt mein Blick zufällig auf die Zusammenfassung unten auf der ersten Seite eines Artikels in der letzten Zeitschrift: »Depressionen sind eine Familienkrankheit, dass sie in Familien verbreitet sind, rührt sehr stark oder ganz von genetischen Einflüssen her.« 15
Ich überfliege den Artikel. Dort steht, eine Reihe von Untersuchungen bei depressiven Familien zeige, dass die Erblichkeit etwa 40 Prozent betrage. Sie hätten gut meine Familie untersuchen können. Allein meine Verwandten ersten Grades hätten stapelweise hervorragende Daten geliefert. Zum Beispiel verläuft eine ununterbrochene Linie von meinem Urgroßvater mütterlicherseits bis zu mir, alle hatten Depressionen. Urgroßpapa Marinus Hansen – den ich nur aus Erzählungen und von einem grauen Porträtfoto kenne – hat sich eine Kugel in den Kopf gejagt; seine Tochter, meine Großmutter mütterlicherseits, hätte man beinahe einer Lobotomie unterzogen. Die Geschichte war gruselig, aber auch herzerwärmend, und als Kind hörte ich sie sehr gern.
»Mami, Mami, erzähl mir, wie es war, als man deiner Mutter beinahe den Kopf aufgeschnitten hätte«, bettelte ich, und meine Mutter erzählte bereitwillig. Schließlich hatte sie das als Teenager miterlebt. Damals war meine Großmutter, die ihr ganzes Leben wie verrückt gearbeitet hatte, in eine tiefe Depression versunken. So tief, dass sie ins Krankenhaus kam und monatelang nur im Bett lag. Niemand konnte etwas tun. Dabei versuchten sie es durchaus. Der Chefarzt wandte großzügig Elektroschocks an, aber nichts half. Die Patientin war zu krank, um selbst zu entscheiden, und schließlich rieten die Ärzte den Angehörigen zum letzten Mittel: einer Operation am Gehirn.
In den 1950er Jahren hieß es in der Medizin, eine Lobotomie – dabei fuhrwerkt man mit einem dünnen Metallspatel in den frontalen Hirnlappen des Patienten herum und durchtrennt willkürlich Nervenbahnen – könne bei sehr schweren Depressionen helfen oder die Patienten wenigstens so weit bringen, dass man sie nach Hause entlassen könne. Dazu wollte der Chefarzt die Zustimmung. Mein Großvater, der nichts über Gehirnchirurgie oder allgemein über medizinische Behandlungen wusste, war dafür, die Papiere zu unterschreiben.
An dieser Stelle bekam ich immer Gänsehaut, egal, wie oft ich die Geschichte hörte. Stell dir vor, wenn sie es wirklich gemacht hätten. Aber der Hausarzt schaltete sich ein: Das dürfe auf keinen Fall geschehen. Stattdessen fand er einen Psychiater,
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