Mein zauberhafter Ritter
Er sah aus, als käme er von einem Set, wo ein mittelalterlicher Film gedreht wurde, nicht als wäre er ein Gast auf der Burg ihrer Schwester. Die Fackeln, die seinen muskulösen Körper beleuchteten, wirkten nicht nachgemacht, sondern echt ...
Sie öffnete verblüfft den Mund, als ihr etwas klar wurde.
Das war er.
Das war der Ritter aus dem Mittelalter, den sie vor Jahren in diesem beeindruckenden Tagtraum in der Nähe von Artane so deutlich vor sich gesehen hatte. Sie konnte es kaum fassen, aber er war es tatsächlich. Sie hatte keine Ahnung, warum er jetzt nur drei Meter entfernt vor ihr stand, wo er doch in ihren Kindheitsträumen verborgen sein müsste, aber das wagte sie ihn nicht zu fragen. Sie zupfte verlegen an ihrem Hemd und wünschte, sie hätte einen anständigen Push-up-BH an, der ihr Mut verlieh - Cindi schwor darauf—, und könnte richtig sehen. Aber das half ihr nicht weiter, also tat sie das Einzige, was ihr einfiel.
Sie trat in das Schlafzimmer zurück und schlug die Tür zu.
Vorsichtig legte sie den Kopf gegen das Holz und wartete, bis die Sterne aufhörten, vor ihren Augen zu tanzen. Es dauerte ziemlich lange, und so hatte sie Zeit, ihre blühende Fantasie unter Kontrolle zu bekommen. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie, wenn sie die Tür wieder öffnete, genau das sehen würde, was dort sein sollte - nämlich einen leeren Gang.
Sie atmete tief durch und startete einen zweiten Versuch.
Sie hätte den Mann in ihren Gedanken nicht als gut aussehend bezeichnen sollen, denn das war er nicht. Er war so attraktiv, dass es beinahe schmerzte, ihn anzusehen. Sein Gesicht hatte perfekte Proportionen, seine Wangenknochen wirkten wie gemeißelt, und seine Augen strahlten in einer außergewöhnlichen Mischung aus Braun und Blau. Wahrscheinlich müsste sie sich ihm nähern, um den genauen Farbton zu bestimmen. Und wenn sie das täte, könnte sie auch einen näheren Blick auf seinen wunderbar geschwungenen Mund werfen.
Aber trotz dieser männlichen Schönheit waren seine Gesichtszüge ein wenig rau, und das verhinderte, dass er hübsch wirkte. Vielleicht lag das an der kleinen Krümmung seiner Nase, die daraufhindeutete, dass er sie sich irgendwann im Laufe seines Lebens gebrochen hatte. Oder an der schmalen Narbe, die sich über einer seiner Augenbrauen entlangzog. Oder an der Grimmigkeit, die ihn umhüllte wie ein Mantel.
Eines war jedoch sicher: Das war nicht Stephen de Piaget.
Und er starrte sie an, als hätte er einen Geist gesehen.
Panik ergriff sie, und sie schlug die Tür rasch wieder zu. Sie konnte kein Schloss entdecken, also blieb ihr nichts anderes übrig, als sich gegen das Holz zu lehnen, um in Sicherheit zu sein, während sie über ihre Situation nachdachte.
Sie schlafwandelte nicht, also konnte sie das alles keinem Albtraum zuschreiben. Sie nahm keine Drogen - wenn man davon absah, dass sie eine Nacht lang Cindis nach Brownies riechenden Atem eingesogen hatte -, also kam auch kein Drogenrausch infrage. Also blieb nur noch die Möglichkeit, dass Tess’ Schloss von Plünderern überfallen worden war, von Eindringlingen, die aussahen wie die schönen Helden ihrer Teenagerfantasien.
Nun, ihr blieb nur eines übrig: Sie musste fliehen, und das so schnell wie möglich. Sie taumelte zum Fenster hinüber, öffnete die Fensterläden und beugte sich hinaus, um nach unten zu schauen. Sie hatte zwar gestern keine Zeit gehabt, sich gründlich umzusehen, doch sie war sich ziemlich sicher, dass die Schlafzimmer zum Burggraben hinausführten. Aber unter ihr befand sich kein Burggraben.
Sie runzelte die Stirn. Der See konnte doch unmöglich während der Nacht abgelassen worden sein, oder?
Sie wollte die Fensterläden wieder schließen und stutzte entsetzt. Das waren nicht die hübschen, genau eingepassten Nachbildungen, die sie gestern gesehen hatte. Und das Fenster war nicht verglast. Sie drehte sich langsam um und schaute sich in dem Raum um. Schmucklose Einrichtung war eine Sache - damit waren sie und alle ihre Geschwister zur Genüge vertraut -, aber hier sah es tatsächlich aus wie im Mittelalter.
Anscheinend war irgendetwas Schreckliches geschehen.
Sie fragte sich unwillkürlich, ob dieser Mann im Gang etwas damit zu tun hatte.
Sie fühlte sich ein wenig benommen, so, als würde ihr Gehirn nur eingeschränkt arbeiten. Allmählich fragte sie sich, °b die ganze Burg von Bösewichtern in Beschlag genommen worden war. Darauf waren Burgbesitzer in der heutigen Zeit nicht vorbereitet.
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