Meine beste Feindin
völlig allein da. Stehst da, auf der Türschwelle, und siehst zu, wie der eigene Freund eine Frau küsst, mit der man eigentlich gut befreundet ist. Du ganz allein. Du und das Verlangen zu verschwinden oder zu blinzeln oder irgendetwas zu tun, das alles ungeschehen macht. Und wenn du dann sprichst, fehlt die Hintergrundmusik, und kein Drehbuchautor legt dir die richtigen Worte in den Mund. Ich wollte beide gleichzeitig zur Rechenschaft ziehen - schreien - eine Erklärung verlangen.
Aber ich sagte nur: »Hm.«
Die beiden drehten sich zu mir um.
»Hm«, sagte ich wieder, diesmal mit einer schrillen Stimme, die so gar nicht nach mir klang und bestimmt nicht so kühl und gleichgültig rüberkam, wie ich es mir in diesem Moment gewünscht hätte. »Was zum Teufel macht ihr da?«
Als ob ich nicht genau gesehen hätte, was sie da taten.
Aber mein Verstand raste bereits, dachte sich Storys aus, Erklärungen, die alles ganz logisch erscheinen ließen. Denen zufolge es nicht nur in Ordnung, sondern geradezu unumgänglich war, dass er Helen küsste.
Aber bevor ich auch nur irgendetwas sagen konnte, seufzte Nate. Mit einer Kopfbewegung warf er sich die Haare aus der Stirn. Sein Blick war gequält, so als ob man hier ihn verletzt hätte.
Helen berührte ihre Lippen mit der Hand und straffte dann die Schultern. Sie sah nicht im Geringsten verletzt aus.
Sie blickte mir direkt ins Gesicht und verkündete: »Ich hab ihm gesagt, dass er mit dir reden muss.«
Und dann ging für eine Weile alles drunter und drüber.
Als der Rauch verflogen war - und das meine ich wortwörtlich, denn die beiden hatten bei all dem Geschrei das Essen im Ofen völlig vergessen, und dann erklärte Helen plötzlich, sie könne das alles nicht ertragen, und Nate (dieses Schwein) rannte hinter ihr her, um zu sehen, ob es ihr auch gut ging, und mir blieb nichts anderes übrig, als schluchzend die verkohlten Reste ihres heimlichen Festmahls zu entsorgen -, da fand ich mich mit Henry am Küchentisch wieder und ertränkte Glas für Glas meinen Kummer.
Ich war nicht sicher, wann er in diesem ganzen Tumult aufgetaucht war, und es war mir auch egal. Ich war wütend und fassungslos. Ich war verletzt. Ich konnte nicht begreifen, dass einer der beiden mich betrogen haben sollte, geschweige denn beide zusammen . Ich weinte, und Henry reichte mir eine Flasche Jack Daniel’s. Ich dachte, er sei ein guter Zuhörer. Meine Nase lief. Und dann wurden die Bilder ein bisschen unscharf.
Ich redete mir später ein, dass Henry meine Gemütsverfassung ausgenutzt hatte, und zum Teil glaubte ich das auch wirklich. Ein wahrer Gentleman, das musste man gar nicht groß betonen, würde niemals die betrunkene, weinende Frau in seiner Küche kompromittieren, und schon gar nicht dann, wenn er den Alkohol mit ins Spiel gebracht hatte. Aber niemand hätte Henry je als Gentleman bezeichnet, und abgesehen davon war er schließlich auch betrunken. Ich weiß nicht so genau, warum man immer davon ausgeht, dass betrunkene Männer verantwortungsbewusster sein sollten als betrunkene Frauen - es kam mir irgendwie sexistisch vor, aber das sollte wohl nur vom zentralen Thema ablenken.
Denn ein Teil von mir erinnerte sich an etwas ganz anderes. Nämlich daran, dass ich es war, die sich über den Tisch lehnte und ihn küsste. Ich zog ihn von dem Stuhl hoch und schob ihn auf den langen Eichentisch. Ich war es, die sich anschließend auf ihn warf. Ich sah das alles vor mir, in gestochen scharfen Bildern. Das keltische Tattoo auf seinem linken Schulterblatt. Die süße kleine Vertiefung zwischen den Brustmuskeln. Und noch viel mehr.
Was ich nicht mehr weiß, ist, wie wir nach oben gekommen sind oder was in dieser Nacht noch alles geschah, obgleich ich mich dunkel daran erinnere, in seinem riesigen Bett in seinen Arm gekuschelt geredet zu haben. Sehr genau erinnere ich mich hingegen daran, wie ich noch vor dem Morgengrauen mit den zu erwartenden furchtbaren Kopfschmerzen und einem ekligen Geschmack im Mund aufgewacht war, entsetzt und verzweifelt. Der Heimweg fühlte sich wie ein Spießrutenlauf an, ich verfluchte mich immer und immer wieder selbst. Als ich zuhause ankam, begann ich zu weinen. Und das tat ich ziemlich lange.
Ich habe niemandem je davon erzählt.
Ich meine, das von Nate und Helen habe ich natürlich schon erzählt. In Bezug auf Henry hatte ich nur erklärt, dass er mir geöffnet hatte, obwohl er genau wusste, was mich erwartete, er mich also ins Verderben hatte rennen lassen.
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