Meine Brüder, die Liebe und ich - Higgins, K: Meine Brüder, die Liebe und ich
auf.“
„Nein. Geh einfach weg.“
„Ich bin durchaus in der Lage, die Tür einzutreten, das weißt du“, drohe ich. „Oder ich drücke so lange auf die Klingel, bis du wahnsinnig wirst.“
„Ich ruf die Polizei“, sagt sie.
„Ach, wirklich?“
Sie öffnet die Tür. „Wohl eher nicht“, gesteht sie. Ihr Gesicht ist ungeschminkt, ihr Haar nicht frisiert. Ohne Makeup sieht sie ganz anders aus … viel weicher und deutlich jünger. Mir fällt ein, dass wir ungefähr das gleiche Alter haben, obwohl sie mir immer älter vorkam. Sie trägt einen rosa Satin-Schlafanzug, und der Fernseher im Hintergrund ist auf stumm geschaltet. Wo sind ihre Freundinnen, Eltern, Geschwister, der Hund … wer auch immer? Warum ist sie am schrecklichsten Abend ihres Lebens allein?
„Es tut mir so leid“, sage ich, und ohne weiter nachzudenken, nehme ich sie in die Arme und küsse sie auf die Wange. „Was für eine beschissene Sache!“
Lucia bricht in Tränen aus.
„Ist schon gut, wein ruhig“, sage ich. „Lass es raus.“
„Das ist der hässlichste Hund, den ich je gesehen habe“, sagt sie schluchzend.
„Schsch“, flüstere ich, „du verletzt ihre Gefühle. Darf sie reinkommen?“
„Sicher.“
Eine Viertelstunde später liegt Buttercup rücklings vor Lucias Kamin. Ihre Lefzen hängen bis auf den Boden, die Ohren liegen wie Pfannkuchen neben ihrem Kopf ausgebreitet, und die vier Pfoten ragen in die Luft. Sie sieht wie ein Unfallopfer aus. Lucia sieht auch nicht viel besser aus, aber ich habe ihr inzwischen ein Glas Wein eingeschenkt und einen Taschentuchspender gefunden (der einen dieser gehäkelten Bezüge trägt).
„Hast du mit ihm gesprochen?“, frage ich sie.
„Oh, natürlich.“ Sie schnieft. „Er sagt, er liebt mich, aber er kann auch nicht gegen seine Natur angehen.“
„Hast du es deiner Familie erzählt?“
Sie nickt. „Sie haben es alle geahnt. Genau wie du.“
Ich frage mich, warum nicht einer von ihnen mal vorsichtig mit ihr gesprochen hat. Würde sie zu meiner Familie gehören, hätte ich es bestimmt getan. „Ich wünschte, ich hätte etwas gesagt, Lu. Ich dachte nur, ich dürfte mir so etwas nicht erlauben.“
Lucia putzt sich die Nase und leert ihr Weinglas. „Ich hätte dir wahrscheinlich den Kopf abgerissen“, gesteht sie. Sie starrt vor sich hin. „Ich kann nicht fassen, dass ich so dumm gewesen bin!“
„Ach, Lu!“ Ich tätschle ihre Hand. „Wenn es um Liebe geht, sind wir doch alle blind.“
„Ach ja? Hat dein Arzt etwa auch einen heimlichen Freund?“
„Nicht, dass ich wüsste“, antworte ich. „Aber du weißt doch, wie es ist. Wir formen die Menschen in unseren Köpfen so um, wie wir sie haben wollen.“ Lucia nickt. „Ich bin sicher, dass auch Ryan in Wirklichkeit …“ Ich breche ab. „Aber lass uns nicht über mich sprechen. Du bist es, die heute Trost braucht!“
Sie lächelt widerstrebend. „Chastity …“ Sie zögert und kaut an einem ihrer langen, angeklebten Fingernägel.
„Ja?“
Sie blickt zu Boden. „Teddybär war derjenige, der diese Animation auf die Webseite gestellt hat“, haucht sie fast unhörbar.
Ich bin sprachlos.
„Und er hat auch deine Aragorn-Figur kaputt gemacht.“
„Warum?“
„Ich habe nichts davon gewusst!“, verteidigt sie sich sofort.„Er hat es mir erst heute erzählt. Er sagte, er habe es getan, weil er wusste, dass ich dich hasse …“
„Oh, danke.“
„… und weil er wollte, dass du schlecht dastehst und vielleicht gefeuert wirst, damit ich deine Stelle bekomme. Weil er dachte, ich hätte es verdient.“ Sie schluckt schwer, und ihre Augen füllen sich erneut mit Tränen.
Ich seufze. „Wow!“
„Wirst du es sagen?“ Sie kaut wieder an ihrem Nagel.
„Soll ich das denn?“, frage ich zurück.
„Ich finde, er leidet schon genug“, flüstert sie, während ihr die Tränen über die Wangen laufen.
„Also gut, dann werde ich nichts sagen. Es ist gut zu wissen, dass mich niemand mehr verfolgt und bedroht.“
„Es tut mir leid“, flüstert sie.
„Du kannst doch nichts dafür“, sage ich und gebe ihr noch ein Taschentuch.
„Weißt du was, Chastity?“ Sie schnäuzt sich laut die Nase. „Ich dachte, du wärst eine blöde Ziege, aber du bist eigentlich ja ganz nett.“
Ich muss lachen. „Danke, Lu. Gleichfalls!“
27. KAPITEL
I ch lehne meinen Kopf gegen die angenehm kühle Scheibe des Beifahrerfensters in Ryans Mercedes. Wir sind auf dem Weg zu ihm. Draußen fällt dieser typisch monotone
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