Meine Brüder, die Liebe und ich - Higgins, K: Meine Brüder, die Liebe und ich
Juniregen, der beruhigend auf das Autodach und gegen die Scheiben prasselt. Ich wünschte, wir könnten die ganze Nacht lang fahren.
„Ich finde, es lief gut“, sagt Ryan und fährt auf seinen reservierten Parkplatz.
„Ach, ja?“ Ich steige aus, ehe er die Wagentür für mich öffnen kann. „Ich fand es schrecklich.“
Wir waren gerade mit meiner Mutter und Harry beim Essen. So langsam mache ich mir ernsthaft Sorgen.
Vielleicht sind sie unbegründet. Vielleicht will Mom ja nur, dass ich zu Dad renne und sage : Hey, Mom scheint diesen Harry richtig zu mögen … Besser, du kriegst deinen Hintern hoch und tust etwas! Vielleicht sollte ich das tun. Ich frage mich, wie weit Mom wohl noch gehen wird, denn sie kann diesen Harry schließlich nicht ewig an der Nase herumführen.
„Was machst du am Wochenende?“, fragt Ryan, während er die Tür aufschließt.
„Hm? Oh, entschuldige. Ich habe praktische Prüfung. Wenn ich bestehe, bin ich endlich eine echte Sanitätshelferin.“
„Ich verstehe. Und diese Prüfung dauert einen ganzen Tag?“
„Ja, Samstag.“ Ich zwinge mich zu lächeln. Es ist ja nicht seine Schuld, dass ich mich so mies fühle. Wegen Harry und Mom und wegen dieses blöden Tests …
Die schriftliche Prüfung habe ich mit Bravour bestanden, aber was heißt das schon bei einem Multiple-Choice-Test? Im praktischen Teil müssen wir ungefähr acht Stationendurchlaufen, in denen jeweils ein Bereich der Ersten Hilfe getestet wird – Herzstillstand, Vergiftung, Bewegungsunfähigkeit, stark blutende Wunden, Schock. Freiwillige Helfer simulieren verschiedene Notfälle vom Beinbruch bis hin zur Sturzgeburt. Ich habe Chancen, den Test zu bestehen. Theaterblut hat mich bisher nicht weiter berührt, und ich bin eine gute Schülerin. Aber was dann? frage ich mich. Werde ich tatsächlich in der Lage sein, mein Wissen in die Tat umzusetzen und Menschen zu helfen?
Letzte Woche haben wir einen Artikel über ein Kind veröffentlicht, das in der Schule von einer Biene gestochen wurde. Der Junge hatte vorher noch nie eine allergische Reaktion gehabt, aber plötzlich fühlte er sich schlecht, ging in den Waschraum und brach dort zusammen, ganz allein. Wie durch ein Wunder kam ein anderes Kind dazu, und dieser Junge hatte eine bekannte Erdnussallergie. Er sah das blau angelaufene Gesicht des ersten Jungen, und ohne zu zögern nahm er seine Notfall-Adrenalin-Spritze, rammte sie dem Jungen in den Oberschenkel und rief dann um Hilfe. Fünf Minuten später konnte der Junge mit dem Bienenstich schon wieder aufrecht sitzen. Der kleine Held war sehr bescheiden. „Wie gut, dass ich eine Allergie gegen Erdnüsse habe“, erzählte er der Polizei. „Wer hätte je gedacht, dass ich das mal sage?“
CNN sendete einen Bericht über eine Frau, die einen dreihundertfünfzig Kilo schweren Baumstamm hochhob, um ihren Mann darunter zu befreien. „Ich konnte ihn ja nicht einfach liegen lassen“, sagte sie. „Obwohl die Versuchung groß war …“
Ryan nimmt mir den Regenmantel ab – wie immer der perfekte Gentleman – und geht in die Küche. Ich höre, wie er eine Flasche Wein entkorkt und einschenkt.
„Mal ehrlich, Chastity“, sagt er dann, als er sich neben mich auf die Couch setzt und mir mein Glas reicht, „warumhast du diesen Kurs gemacht? Du willst doch nicht ernsthaft Sanitäterin werden, oder?“
Ich trinke einen Schluck. „Ich weiß nicht. Vielleicht hoffe ich nur, dass … ich weiß nicht. Dass ich die Reihe meiner heroischen Brüder fortsetze. Dem Familienerbe der O’Neills gerecht werde.“
„Und was ist das für ein Erbe?“
Ich sehe ihn ungläubig an. Sein Blick ist unschuldig und erwartungsvoll. „Ryan, du warst doch bei mir zu Hause. Du warst im Haus meiner Mutter. Hast du da nicht all die gerahmten Zeitungsausschnitte im Flur gesehen? All die Fotos von meinen diversen Brüdern mit diversen Bürgermeistern und Opfern und all das? Jack hat einen Orden bekommen! Mark hat einer Katze das Leben gerettet! Trevor hat ein kleines Mädchen vor dem Ertrinken gerettet! Allein mein Vater hat …“
„Okay, okay, entschuldige. Beruhige dich. Du brauchst nicht gleich so zu schreien!“
Ich stürze Ryans teuren Pinot Sonstwas hinunter. „Ich bin ruhig, Ryan. Ich bin nur überrascht, dass du das nicht bemerkt hast.“
„Also, ich wusste schon, dass sie irgendwie im Not- und Rettungsdienst arbeiten.“ Seine Stimme hat wieder diesen Elite-Uni-Klang. „Aber mir war nicht klar, dass das gleich ein Erbe
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