Meine Brüder, die Liebe und ich - Higgins, K: Meine Brüder, die Liebe und ich
erlaubte mir, allein zu gehen, mit der strikten Auflage anzurufen, falls ich länger bleiben würde. Ich klingelte, und Michelles älterer Bruder ließ mich in den Flur treten. Über seine Schulter hinweg sah ich jemanden unter einer dicken Decke auf dem Sofa liegen.
„Ist Michelle da?“, fragte ich den Bruder. „Ich bin eine Schulfreundin.“
„Sie ist krank“, antwortete er. „Sie kann jetzt nicht spielen.“
„Oh.“ Ich wurde rot und gab ihm die Kekse. „Richte ihr bitte schöne Grüße von Chastity aus“, sagte ich und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Der Bruder ging in die siebte Klasse und war irgendwie … süß. Ich blickte noch einmal über seine Schulter. Michelle hob ihre Hand. Ich winktezurück, ohne zu wissen, dass ich sie niemals wiedersehen würde.
„Danke, dass du vorbeigekommen bist, Chastity“, sagte er. „Und danke auch für die Kekse.“
Später erfuhr ich, dass Michelles Leukämie so bösartig war, dass ihr Immunsystem nicht mit möglichen Keimen durch Besucher belastet werden durfte. Ich vermisste sie zwar, aber eigentlich hatten wir gar nicht genug Zeit gehabt, uns richtig anzufreunden. Mein Leben ging weiter wie gewohnt, mit Basketball, Hausaufgaben, Fußball, Sonntagsschule. Eines Abends, viele Monate, nachdem Michelle nicht mehr zur Schule gekommen war, kam meine Mutter mit ungewöhnlich ernstem Gesicht in mein Zimmer. „Schließ Michelle Meade bitte gleich in dein Nachtgebet ein“, sagte sie. „Sie ist sehr, sehr krank.“
Ich gehorchte und betete inbrünstig ein Kindergebet. „Bitte, bitte, lieber Gott, lass Michelle nichts Schlimmes passieren! Bitte mach, dass es ihr besser geht. Bitte, lass sie wieder gesund werden.“
Doch sie wurde nicht gesund.
Meine Mutter ließ mich vom Unterricht befreien, damit ich zur Beerdigung gehen konnte, und ich weinte laut und schluchzend, als der kleine weiße Sarg durch den Mittelgang getragen wurde. Ihre Eltern gingen schwach und blass vor Kummer hinterher, ihr Bruder schmal und unbeachtet zwischen ihnen, wie ein ausgesetztes Tier. Als ich ihn sah und mir plötzlich klar wurde, dass ein Kind so einfach sterben konnte, dass ich Jack oder Lucky oder Mark oder Matt jederzeit verlieren konnte, so wie dieser Junge seine Schwester verloren hatte, wurde ich fast hysterisch. Meine Mutter trug mich leicht schwankend – ich war damals schon über eins fünfzig – ins Auto, streichelte mir den Rücken und flüsterte beruhigend auf mich ein. Als sie sich hinter das Steuer setzte, wischte sie sich über die Augen. „Ich hab dich ja solieb, Chastity“, sagte sie. „So, so, so lieb!“
Ein paar Wochen später sah ich Michelles Bruder allein auf dem Basketballfeld unseres Schulhofs. Mom war in der Sprechstunde eines Lehrers von Mark, und ich tat so, als würde ich Der kleine Hobbit lesen. In Wirklichkeit beobachtete ich heimlich Michelles Bruder, wie er einen Korb nach dem anderen warf, bis das Schicksal mich schließlich einbezog, den Ball abprallen und mir vor die Füße rollen ließ. Ich hob ihn auf und wartete.
„Hallo“, sagte ich, als er ankam, um den Ball zu holen.
„Hallo“, sagte er.
Mir fiel auf, dass seine Kleidung schmuddelig war. Seine Turnschuhe waren abgewetzt und abgelaufen, sein Haar musste geschnitten werden. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, und die Hose war ihm bis auf die Hüfte gerutscht.
„Ich bin Chastity O’Neill“, sagte ich. „Ich hab euch mal besucht.“ Ich wollte ihm zu verstehen geben, dass auch ich litt und seinen Schmerz mitfühlen konnte.
Er blickte zu Boden. „Ach ja“, sagte er nur, mehr nicht.
„Ich bin Matts und Marks Schwester. Kennst du die?“ Meine jüngsten Brüder waren jeweils ein Jahr älter und jünger als er, Mark eine Klasse über ihm, Matt eine darunter.
„Ein bisschen“, sagte er und sah auf den Ball, den ich mir fest unter den Arm geklemmt hatte. Eine Minute lang sagten wir beide gar nichts.
„Es tut mir leid, dass deine Schwester gestorben ist!“, platzte ich dann heraus.
Der Bruder sah mich eine Weile aus dunklen Augen an, dann kniff er sich mit Daumen und Zeigefinger in die Nasenwurzel und senkte den Kopf. Ich hatte diese Geste ein paarmal bei meinem Vater gesehen, kurz bevor er uns Kinder aus dem Wohnzimmer verbannte, um Mom mit leiser Stimme von seinem Tag zu erzählen, wenn jemand schwer verletzt worden war … oder wenn jemand es nicht geschafft hatte.Für mich war es eine ganz und gar erwachsene Geste, und als ich sie jetzt bei Michelles
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