Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
niemand. Opa Simon erstellte auch weiterhin Exzerpte aus den alten Büchern, die er abends aus seinem Zimmer unter dem Dach in die Küche brachte, er ordnete die Stromrechnungen, studierte die Wetterberichte in den Zeitungen und gab Anweisungen, wie die Vorräte für den Winter eingemacht werden sollten. Onkel Jakov kehrte mit Neuigkeiten aus der Stadt zurück und brachte mir das Schachspielen bei. Meine Cousine Emilia hielt Schach für ein geistloses Spiel ohne jegliche Fantasie, sie weigerte sich, mit mir zu spielen, und verbrachte die Abende lieber damit, in den alten, schon so oft gelesenen Romanen von Jules Verne zu blättern. Doch beide schauten wir auf, wenn die Hufe des Einhorns auf den Steinplatten im Hof klapperten; die anderen taten so, als hörten sie nichts.
Gegen Abend wurde das Einhorn immer unruhig, es lief dann von einer Mauer zur anderen und schüttelte seinen Kopf. Doch tagsüber stand es stundenlang in einem Winkel des Hofes und riss die spärlichen Grasbüschel zwischen den Platten aus. Es hielt den Kopf leicht zur Seite geneigt und starrte auf einen Punkt, als lausche es auf etwas. Wenn wir aus der Schule kamen, trafen wir es mit geweiteten Nüstern schnobernd an, als wolle es den kaum spürbaren Hauch ferner Gebirge erhaschen, in denen es bereits schneite.
Anscheinend hatte sich die Familie mit der Anwesenheit des Einhorns abgefunden. Jeder brachte ihm Futter: Gemüsereste, Kohlblätter, Mais. Es fraß alles, ein wenig abwesend, würdevoll, ohne Gier erkennen zu lassen. Sein Fell war glatt und glänzte; meine Cousine Emilia striegelte es mit einer alten Bürste und band ihm Schleifen in die Mähne; fröhlich warf es den Kopf zurück.
Doch seine Anwesenheit konnte nicht unbemerkt bleiben. Obwohl wir uns bemühten, dass kein Fremder das Tier zu Gesicht bekam, gelangte die Nachbarin von gegenüber eines Tages, als sie niemanden in der Küche antraf, an die Tür zum Hof. Als sie das Tier entdeckte, schlug sie die Hände zusammen und kreischte auf. Es nützte nichts, dass Oma und die Tanten, die sofort zur Stelle waren, ihr Kaffee anboten – sie rannte hinaus und machte sich auf den Weg durch die Nachbarschaft.
Schnell zog die Geschichte Kreise. Die ersten Neugierigen wurden von Opa ziemlich grob abgewiesen. Abends, als wir alle in der Küche versammelt waren, sagte er dann in einem entschlossenen Ton, der keinen Widerspruch duldete: »Wir müssen es verstecken.«
Rasch war der Schuppen ausgeräumt. Er war eng und dunkel, mit einem Fußboden aus festgestampfter Erde. Das Einhorn passte gerade eben hinein. Den Nachbarn, die sich bei uns einfanden, konnten wir einen leeren Hof zeigen; als sie sich auf die Aussage der Nachbarin beriefen, tippte Opa sich an die Stirn und machte damit deutlich, dass bei ihr da oben etwas nicht in Ordnung sei.
Fortan musste das Einhorn eingesperrt im Schuppen bleiben; nur nachts ließen wir es in den Hof, damit es sich die Beine vertreten konnte. Trotzdem verbreitete sich die Geschichte immer weiter. Der Schlachter an der Ecke grüßte jeden von uns mit auffallender Liebenswürdigkeit. »Als würde er darauf warten, dass wir ihn rufen«, sagte Tante Milena vor Wut zitternd.
Zunächst hatte dies keinen Einfluss auf unsere Besuche. Meine Cousine Emilia und ich gingen so oft wie möglich zumSchuppen. Im Halbdunkel stehend betrachtete uns das Einhorn mit seinen klugen Augen; wir brachten ihm Gras, Mohrrüben, hin und wieder sogar ein Stück gebackenen Kürbis. Es fraß uns aus der Hand. Meine Cousine Emilia säuberte ihm das Fell von Spinnweben, die sich darin verfangen hatten – seinen Glanz hatte es längst eingebüßt. Wenn wir es nachts in den Hof ließen, hob es sein Antlitz dem Mond entgegen, stand ein paar Augenblicke lang unbeweglich auf den Steinplatten und ging dann von allein zurück in den Schuppen.
Als die Regenfälle einsetzten, rannten wir immer seltener hinüber, um es zu besuchen. Durch die Regengüsse, die den gepflasterten Hof in eine Art Käfig mit durchscheinenden Stäben verwandelten, schien die Schuppentür unendlich weit entfernt, nahezu unerreichbar. Wir betrachteten den Hof durch das Küchenfenster: Die Steinplatten waren dunkel und glitschig, und darüber ging ganz vorsichtig, wie auf Eiern, Oma Spomenka mit einem schwarzen Schal, um nachzusehen, ob die im Keller eingelagerten Wintervorräte womöglich schimmelten.
Nur einmal noch zog jemand Erkundigungen über das Einhorn ein. Eines Nachmittags kam ein merkwürdig gekleideter Mann mit
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