Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
ich, aber sie streichelte ihm bereits über die Nüstern, den Hals, die Stirn. Das Einhorn stand ruhig da, und nur das kaum sichtbare Zittern, das ihm über den Rücken lief, verriet seine Aufregung.
Wie das Einhorn auf unseren Hof hatte gelangen können, war nicht ganz klar. Dorthin kam man nur durch die Küche, an den anderen Seiten war er von den rückwärtigen, fensterlosen Mauern der angrenzenden Häuser und den Hofgebäuden der Nachbarn umgeben. Doch gab es auch zwei, drei Stellen, wo kleine Abschnitte nur von einem Bretterzaun versperrt waren. Das Holz war morsch, und vielleicht hatte sich das Tier durch irgendeine Lücke gezwängt. Allerdings konnten wir keine einzige Stelle finden, die seiner Größe entsprochen hätte.
Das Einhorn blieb ruhig stehen, während Oma Spomenka ihm Brot gab und die Tanten sein Fell aus der Nähe betrachteten und darüber ins Schwärmen gerieten. Opa Simon lief im Hof auf und ab, wiegte den Kopf, brummelte etwas vor sich hin und schniefte missvergnügt. »Wir werden Schwierigkeiten bekommen«, sagte er schließlich und ging ins Haus.»Kein Wort über das hier, zu niemandem!«, rief er uns von der Schwelle aus zu.
Nach der Schule rannten wir voller Ungeduld nach Hause. Das Einhorn befand sich in einer Ecke des Hofes. Prachtvoll und glänzend stand es vor der grauen, unansehnlichen Mauer. Als es uns bemerkte, hob es den Kopf und kam langsam auf uns zu. Meine Cousine Emilia warf ihren Ranzen zu Boden und legte die Arme um das Tier. Sie steckte ihre Nase in sein Fell, schnupperte daran und flüsterte ihm Koseworte zu. Das Einhorn schloss die Augen.
Der Oktober war gekommen. Eines Nachmittags, als wir durch das Küchenfenster zuschauten, wie der Wind die ersten gelben Blätter von den Pappeln riss und sie auf das Einhorn wehte, das versuchte, sie mit der Spitze seines Horns aufzuspießen, behauptete Oma Spomenka, es fresse zu viel Brot. »Wir haben doch nicht einmal genug für uns«, sagte sie mit pelziger Stimme, als hätte sie unreife Kornelkirschen gegessen. Opa Simon war in die großen Bücher vertieft, die er aus seinem Mansardenzimmer heruntergeschleppt hatte. Es waren dicke Enzyklopädien und Wörterbücher, Bände voller Bilder von ungewöhnlichen Tieren, auf Griechisch, Lateinisch, Arabisch und Französisch. Er erstellte Exzerpte, verglich, kehrte zu nicht ganz verständlichen Abschnitten zurück, kniff ungläubig die Augen zusammen oder riss sie weit auf, um Missfallen oder Erstaunen zum Ausdruck zu bringen.
»Die meisten Quellen«, stellte er abschließend fest und klappte die Bücher zu, aus denen Staubwölkchen aufstiegen, »die meisten Quellen stimmen darin überein, dass das Einhorn nie existiert hat.« Die Tanten, die stickten, strickten oder nähten, blickten von ihrer Handarbeit auf. »Ja, aber wiekann denn dann …«, sagte Tante Milena und machte eine Kopfbewegung zum Fenster hin. »Die meisten Quellen«, sagte Opa Simon. »Nicht alle.«
Am Abend wurde in der Küche ein Familienrat einberufen. Es wurden gewichtige Argumente gegen den Verbleib des Einhorns im Hinterhof vorgebracht. Oma Spomenka wiederholte, es fresse zu viel Brot. »Wir werden Schwierigkeiten bekommen«, sagte Opa Simon. »Wir müssen es loswerden«, sagte Onkel Jakov. Aber wie? Es auf die Straße zu führen und einfach sich selbst zu überlassen, war unmenschlich. Wer weiß, was dann aus ihm geworden wäre! Aber was käme sonst infrage? Onkel Jakov brachte, zunächst etwas verklausuliert, auch den Zoologischen Garten ins Spiel. Die Tanten waren dagegen. Meine Cousine Emilia fing an zu weinen. Onkel Jakov bestand auf seinem Vorschlag. Schließlich schlichtete Opa Simon den Streit. »Du kannst denen doch kein Tier bringen, von dem die meisten Quellen meinen, dass es gar nicht existiert«, sagte er. »Das ist eine wissenschaftliche Einrichtung.« Diese Feststellung führte dann dazu, dass Onkel Jakovs Vorschlag verworfen wurde.
Die Diskussion zog sich in die Länge, schweifte ab und wandte sich unnötigerweise nebensächlichen Fragen zu (zum Beispiel: »Kann man Einhornfleisch eigentlich essen?«), und am Ende betrachteten wir nur noch gemeinsam die schönen Stiche in den Büchern über Fabeltiere von Ambroise Paré und Ulisse Aldrovandi. Wir kamen lediglich zu dem Schluss, dass man am nächsten Tag auf den Markt gehen und Kohl für den Winter kaufen müsse.
Auch an den anderen Abenden wurde keine Lösung gefunden. Das Einhorn war da, das war eine Tatsache, aber wasweiter – das wusste
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