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Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Titel: Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vlada Urosevic
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Hippogryphen. Opa Simon verweilte bei den Seiten, auf denen es herrliche Bilder von Einhörnern gab. Er blätterte in Wörterbüchern und verglich unterschiedliche Quellen. Ein paar Angaben überprüfte er mehrmals. Schließlich klappte er alle Bücher zu, nahm die Brille ab, schaute sich um und sagte ganz ruhig: »Allen wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge haben Einhörner trotz allem niemals existiert.« Seine Worte duldeten keinen Widerspruch, sie strahlten die Weisheit des Alters und durch Lektüre zahlreicher dicker Bücher angehäuftes Wissen aus. Niemandem von uns wäre in den Sinn gekommen, ihm zu widersprechen. Dann fügte er an Oma Spomenka gewandt hinzu: »Das Sauerkraut muss umgefüllt werden, die Temperaturen steigen und es könnte uns verschimmeln.«

W INTERREISE
    Warm war es in diesem Winter nur in den Zügen. Überhitzte, rot glühende Lokomotiven rasten zwischen den öden, schneebedeckten Bergen hindurch, neigten sich gefährlich über zugefrorene Flüsse, stießen in den Tunneln, wo sich noch feindliche Soldaten versteckten, Dampf aus und pfiffen verzweifelt vor roten Haltesignalen. Die Heizkessel wurden mit allem Möglichen befeuert: mit alten Eisenbahnschwellen, mit Reisig, mit getrockneten Kuhfladen, sogar mit Mobiliar aus den verwüsteten Häusern der Reichen.
    Die Stadt, in der meine Cousine Emilia und ich zur Schule gingen, war anderthalb Stunden von dem kleinen Ort entfernt, in dem wir damals wohnten. Jeden Tag fuhren wir mit dem Zug hin und zurück. Die Stadt war stark zerstört, vor dem Theater wurden Militärparaden abgehalten, oft fiel der Strom aus. Im Gymnasium saßen wir auf dem Boden: Die Bänke waren schon längst verfeuert worden. Die Lehrer bahnten sich zwischen den armlosen Gipsabgüssen antiker Statuen ihren Weg und bemühten sich, ihre Verbundenheit dem neuen Regime gegenüber deutlich zu bekunden. In den Kinos wurden alte, aus der Vorkriegszeit stammende Filme gezeigt, die Rollen waren ausgetrocknet und rissen andauernd.Gerade erst von der Front zurückgekehrte Soldaten drohten damit, die Leinwand mit Kugeln zu durchlöchern.
    Wir hatten allerdings nur wenig Gelegenheit, uns in der Stadt umzusehen: Den ganzen Morgen verbrachten wir im Zug, und auch den Einbruch der Dunkelheit erlebten wir dort. Durch das Fenster sahen wir zu, wie über dem Zug Funken flogen, ein kleines Feuerwerk stob in die Nacht, der Schnee war weithin erleuchtet. Ganz von Schnee bedeckt raste der Zug durch die Nacht, mit eingefrorenen Türen und Fenstern, die an jedem Bahnhof mit heißem Wasser bespritzt werden mussten, damit sie sich öffnen ließen. In Dampf und Rauch gehüllt blieb der Zug dann kurz stehen, während um ihn herum die mit Bündeln und Kisten schwer beladenen Reisenden kopflos durcheinanderhasteten, und setzte bald darauf seinen Weg durch Nacht und Schnee fort.
    Meine Cousine Emilia und ich saßen in einem Winkel eines großen, schwach beleuchteten Waggons voller Menschen und schauten aus dem Fenster. Der Zug fuhr an einsam gelegenen Häusern vorbei, in denen nur eine Lampe brannte, an mächtigen, kahlen Bergen, über denen der Vollmond leuchtete, an zerstörten Brücken und ausgebrannten Fabriken. Hin und wieder blieb er auf freiem Feld stehen, Angehörige der Volksmiliz und des Grenzschutzes oder bewaffnete Bauern stiegen aus und schossen auf Wölfe, auf die Nacht, auf Tabakschmuggler. Die Lokomotive pfiff gellend, die Männer rannten an den Waggons entlang, verteilten sich über die Felder, gruppierten sich wieder. Dann fuhr der Zug wieder an, durch das Fenster sah man verschneite Felder, den Mond, unbelaubte Bäume.
    In diesem Winter hatten die Züge laufend Verspätung, und einen Teil der Fahrt verschliefen wir aneinandergelehnt aufden Holzbänken des Waggons. Der Zug schaukelte und bebte wie in Krämpfen, das Holz knarrte; es war warm und wir dösten müde und verschüchtert vor uns hin. Die Haltesignale standen zum Verzweifeln lange auf Rot, die Züge mussten warten, in den Waggons stellte man die unterschiedlichsten Vermutungen an. Man sprach von der Möglichkeit, auf eine andere Strecke auszuweichen, und erwähnte alte Gleisstränge, die längst in Vergessenheit geraten waren. Die Türen zwischen den Waggons öffneten und schlossen sich. Männer in zerlumpten Militärmänteln gingen vorüber, sie stanken nach mit Maisstrünken verschlossenen Schnapsflaschen. Die Züge waren voller Falschspieler, Handleserinnen, Wahrsager mit weißen Mäusen, Taschendiebe, angeblicher

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