Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
Gesicht triumphierend an. Unvermittelt drückte sie meine Hand und flüsterte mir zu: »Das Schloss am Hamam lässt sich mit meiner Haarspange öffnen!« Ihre Hand war kalt, man merkte, dass sie lange draußen gewesen war.
»Woher weißt du das?«, fragte ich.
»Ich habe es ausprobiert«, antwortete sie triumphierend. »Ich wäre auch allein reingegangen, aber ich habe keine Streichhölzer dabei«, fügte sie hinzu.
Ich stand da, ohne die Bedeutung ihrer Worte in Gänze zu begreifen.
»Mach schnell jetzt, beeil dich«, sagte sie, »und nimm irgendeine Lampe mit.«
Wir stapften durch den zäher werdenden Schlamm und gelangten an die Tür des Hamam. Meine Cousine Emilia nahm die Spange aus dem Haar: Das Schloss klickte und ging auf.Wir schlüpften durch die Tür in das tiefe Dunkel des großen Gebäudes.
Ich schaltete die Taschenlampe ein. »Die Tür«, murmelte meine Cousine Emilia, »mach die Tür zu, sonst sieht noch jemand, dass Licht ist im Hamam.« Widerstrebend gehorchte ich. Die Tür hinter uns zu schließen kam mir vor, als würden wir uns von allem Bekannten entfernen, von der Sicherheit des Alltäglichen, sogar von der Welt. Der dünne Lichtstrahl beleuchtete Kisten und Ballen: Dazwischen entdeckten wir schmale Gänge, durch die wir uns bewegen konnten. Wir kamen langsam voran, bemühten uns, so wenig Lärm wie möglich zu machen, und beleuchteten nur den Weg unmittelbar vor uns. Das Gewölbe über uns war nicht zu erkennen, aber die lastende Stille, die abgestandene Luft und die Gerüche ließen uns spüren, dass wir uns in einem geschlossenen Raum bewegten – eine große Schatzhöhle, der wundersame Palast des Geheimnisses, ein Zufluchtsort, der verlockend und furchteinflößend zugleich wirkte.
Die ersten beiden Räume, die größten und höchsten, standen voller Handelsgüter. Da waren unordentlich übereinandergestapelte Kisten, deren Inhalt nicht zu erahnen war und deren Aufschriften die Namen ferner Länder verrieten, wenn der Schein der Taschenlampe darauf fiel. Doch die nächsten Räume waren völlig anders: Wegen ihrer schmalen Türen konnte man dort keine großen Gegenstände lagern. Dort lagen Dinge herum, über die die Zeit hinweggegangen war, deren einstiger Wert jedoch verhinderte, dass sie einfach so auf den Müll geworfen wurden. In den Lichtkegel der Taschenlampe gerieten die Gesichter gestürzter Statuen, aus irgendwelchen Gymnasien stammende zerrissene Landkarten mitlängst überholten Grenzziehungen, Schilder mit Beschriftungen in einem Alphabet, das seit langem nicht mehr gültig war; in einem Winkel glänzte der abblätternde schwarze Lack auf dem ausgemusterten Verdeck einer Kutsche, in einem anderen ein blinder Spiegel aus einem nicht mehr existierenden Hotel, der verstaubte, rote Samt eines Sessels und der geschnitzte, von Holzwürmern durchlöcherte Arbeitstisch eines früheren Stadtvaters. Mit den Gegenständen um uns herum veränderten sich auch die Gerüche: Zuerst hatte es nach frischem Holz, Teer und schlecht gegerbtem Leder gerochen, doch je weiter wir in den Hamam vordrangen, desto mehr wurden sie in den Hintergrund gedrängt, und Gerüche nach Fäulnis, Trödel und Feuchtigkeit nahmen ihren Platz ein. Wir rochen, wie sich – nur als Ahnung, kaum wahrnehmbar – die süßlichen, erregenden, beunruhigenden Düfte dazwischendrängten, die es früher im Basarviertel gegeben hatte: Moschus, Weihrauch, Sandelholz, Nelken, Zimt. Die Luft wurde drückend und wärmer, sie war gesättigt mit Feuchtigkeit: Es schien, als gelangten wir in andere Regionen, in Gegenden, die anderen Klimazonen angehörten.
Wir irrten von Raum zu Raum, kehrten um, kamen unerwartet an den gleichen Stellen heraus, verloren die Orientierung. Wir zwängten uns zwischen dem herumstehenden Gerümpel hindurch und drangen tiefer und tiefer zum Mittelpunkt des großen Bauwerks vor.
Einmal kamen wir an aufgerissenen, übel zugerichteten Sprungböcken vorbei, die auf ihren vier steifen, gespreizten Beinen dastanden wie geköpfte Tiere. Gleich dahinter lagen verstümmelte Schaufensterpuppen aus einem Galanteriewarengeschäft, ohne Beine und ohne Arme, in grauenerregendenPosen von Irrsinn und Metzelei. Es fanden sich Bäume aus einem Bühnenbild, Rahmen mit eingerissenen Bildern, sogar ein großer ausgestopfter Adler.
All das erstreckte sich vor uns wie ein ungeheuerlicher toter Wald, wie die Ruine eines verlassenen und vergessenen Tempels in den Tropen. An manchen Stellen hingen dichte Vorhänge aus
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