Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
Spinnweben von der Decke, hin und wieder spürten wir ihre fast wesenlose Berührung auf unseren Gesichtern. In solchen Momenten blieb meine Cousine Emilia stehen und suchte nach meiner Hand. Doch als sie mir die Finger fest zusammendrückte, wusste ich, dass es nicht an einem Spinnennetz lag: Sie bedeutete mir damit, stehen zu bleiben. Dann drückte sie meine Hand noch fester. Ich begriff und schaltete die Lampe aus. Wir standen im Dunkeln und lauschten.
In der Finsternis regte sich etwas schwer und unbeholfen; irgendwo hinter einem Haufen Gerümpel war etwas Lebendiges. Wir blieben regungslos stehen und versuchten, jedes Geräusch zu entschlüsseln, nichts zu überhören, was aus den bedrohlichen, dunklen Räumen zu uns drang. Lange war es still, dann erklang so etwas wie ein Seufzer, wie ein nicht ganz ausgesprochenes Wort, wie eine dunkle, heisere Klage, wie ein halb gemurmelter, halb gesungener Fluch, ausgestoßen von einem unglücklichen Wesen und gerichtet gegen alles Unheil der Welt.
Ich schaltete die Lampe ein und tat ein paar Schritte. Der Lichtkegel bewegte sich zuerst an der Wand mit dem abbröckelnden Putz entlang und beleuchtete dann einen Haufen Säcke, aus dem sich jemand ein Lager bereitet hatte. Inmitten dieser Lumpen regte sich etwas, als kämpfe es darum, freizukommen,als entwinde es sich der Umklammerung unsichtbarer Mächte. Dann tauchte aus dem Durcheinander von grobem, in Zerfall begriffenem Gewebe ein Kopf auf: verwühltes, schütteres Haar von der Farbe fauligen Strohs und ein Gesicht voller Falten. Es war eine alte Frau mit furchterregendem Antlitz, verrunzelt wie zerknülltes Pergamentpapier, und mit schlafverklebten Augen, die sie angesichts des unerwarteten Lichtstrahls zusammenkniff. In ihrem Blick lag im ersten Moment Erschrecken, dann jedoch Bosheit und ohnmächtige Wut. Sie öffnete ihren Mund mit den wenigen gelben Zähnen und spuckte in unsere Richtung. Dann begann sie sich kreischend unter dem Haufen Lumpen hervorzuarbeiten.
Wir warteten nicht, bis sie ihre Verwünschungen beendet hatte, sondern rannten durch das Chaos aus herumstehenden Gegenständen davon; der Schein der Taschenlampe wies uns den Weg. Aufeinandergestapelte, umgedrehte Stühle warfen fantastische Schatten, die an verendete und steif gewordene Tiere erinnerten, an die Wände.
Als wir die Tür des Hamam hinter uns zugeschlagen hatten, schloss Emilia die Augen und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Wir waren verstört, als wären wir gerade aus einem Albtraum aufgewacht. Während wir im Hamam gewesen waren, hatte dichtes Schneegestöber eingesetzt; der Schnee bedeckte bereits die Straßen und lastete in dicken, sich hochtürmenden Lagen auf den Dächern, den Gartenzäunen und sogar den Telefonkabeln. In der stillen Luft kreiselten Schneeflocken. Meine Cousine Emilia hob ihr Gesicht und sie schmolzen auf ihren geschlossenen Lidern. Waren wir wirklich im Hamam gewesen? Gab es diese Welt aus alten, abgelebten Gegenständen und dumpfen Gerüchen tatsächlich?Hatten wir wirklich diese Alte gesehen, die hier von allen unbemerkt lebte, wer weiß wie lange schon? War das alles tatsächlich geschehen oder hatten wir einen Augenblick lang geträumt? Aber es war ja alles noch da, wenn auch vom Schnee verfremdet: der Hamam mit seiner dichten, undurchdringlichen Dunkelheit, die schwere Tür mit dem Vorhängeschloss, das Mauerwerk aus Ziegeln und Bruchsteinen und meine Cousine Emilia, die außer Atem an der Wand lehnte, die geschlossenen Augen gen Himmel gerichtet. Ich wollte nach Hause gehen und zupfte sie am Ärmel.
»Das Schloss«, zischte sie. »Du willst den Hamam doch sicher nicht offen lassen.« Ich drückte das eisig kalte Schloss zusammen; es klickte. Jenseits der Tür blieb die fantastische, verlockende und zugleich furchteinflößende Welt aus einer anderen Zeit zurück, durch die seit ein paar Jahrhunderten schon die verloren gegangene Braut eines türkischen Paschas irrte.
»Was meinst du, ist sie es?«, fragte ich.
»Vielleicht«, sagte meine Cousine Emilia.
»Aber das ist doch mindestens« – ich rechnete schnell nach –, »mindestens vierhundert Jahre her.«
Emilia hielt die Augen noch immer geschlossen. Sie hatte die Zunge herausgestreckt, und wenn sie damit nach Schneeflocken haschte, stiegen kleine Dampfwölkchen auf.
»Na und«, sagte sie. »Das ist doch nicht lang.«
»Aber vielleicht ist es auch irgendeine Zigeunerin«, sagte ich. »Eine ganz normale Bettlerin, die hier vor dem Winter
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