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Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Titel: Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vlada Urosevic
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darauf aussah.
    »Ich habe so ein Kästchen noch nie gesehen«, sagte sie. »Aber ich hätte es gern. Wie habe ich es verloren?«
    »Es ging drunter und drüber«, sagte ich. »Irgendwas Komisches ist passiert. Wir mussten verschwinden.«
    »Konnten wir nicht zurückgehen?«, fragte sie.
    »Ich glaube nicht«, sagte ich. »Es waren Lehrer aus unserem Gymnasium da. Und auch die Alte war in die Sache verwickelt.«
    »Schade«, sagte sie. »So ein schönes Kästchen, und ich bekomme es nie wieder zurück. Aber dein Ring war auch schön.«
    »Was für ein Ring?«, fragte ich.
    »Du hattest einen Ring«, flüsterte meine Cousine Emilia stockend. »Einen von diesen alten Ringen, mit einem Siegel. Ein Siegelring. Es war ein Zeichen eingeritzt, sehr klein, aber ich habe es mir eingeprägt. Es war ein Mohnkelch.«
    »Von was für einem Ring redest du denn da«, sagte ich.
    Draußen schmolz der Schnee, gleichförmig tropfte es von den Dachtraufen, im Zimmer nistete sich Halbdunkel ein. Das Gesicht meiner Cousine Emilia glühte: Entweder hatte sie Fieber oder der Widerschein des Feuers fiel aus dem angelehnten Ofentürchen auf sie.
    »In der Nacht, als wir aus dem Hamam zurückkamen, habe ich geträumt, dass dir ein Ring heruntergefallen ist«, sagte sie. »Ich habe geträumt, dass ich zurück in den Hamam gegangen bin, um ihn zu suchen. Aber drinnen waren so viele Leute …«
    »Dann sind wir uns in der Nacht noch einmal dort begegnet«, sagte ich. »Weißt du noch, in der Menge waren die Lehrer aus dem Gymnasium und Opa Simon, und diese Alte schwamm im Becken, aber das war ja noch davor …«
    Das Gesicht meiner Cousine Emilia wirkte angespannt. Sie versuchte angestrengt, sich an etwas zu erinnern, schloss die Augen und runzelte die Stirn, sie bedeutete mir mit der Hand, dass ich sie nicht unterbrechen solle, ihre Lippen öffneten sich, um ein Wort zu formen, doch dann erschlafften sie wieder, ihre Hand fiel herunter, ihr Blick irrte hilflos umher.
    »Nein, nein, nein«, sagte sie. »Ich erinnere mich nicht.Quäl mich doch nicht. Und überhaupt, das ist doch ganz unmöglich …«
    Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und verharrte lange so, als wollte sie sich vor etwas schützen.
    Im Zimmer wurde es dunkel. In der abgestandenen Luft verströmten die auf dem Schrank liegenden Äpfel ihren beruhigenden, einlullenden Duft.
    »Gleich kommen die Tanten, um mir Tee zu bringen und Fieber zu messen«, sagte ich. »Schnell, küss mich.«
    Meine Cousine Emilia küsste mich. Vom Fuß der Holztreppe her waren bereits die Stimmen der Tanten zu hören.
    ***
    Ein paar Tage später durfte ich wieder hinunter in die Küche. Dort saß Opa Simon, faltete die alten Stadtpläne auseinander, die der österreichische Generalstab zu Beginn des Jahrhunderts ausgearbeitet hatte, und betrachtete sie. Er fuhr mit dem Finger den Verlauf längst nicht mehr existierender Straßen nach, tippte auf die für ehemalige Konsulate stehenden Kreise, las durch seine Lupe die winzigen Bezeichnungen. Über seine Schulter gebeugt schaute ich mir den ungleichmäßig ausgebreiteten Schmetterling der Stadt an. »Schau, hier sind wir«, sagte Opa Simon. Ich folgte seinem Zeigefinger und sah neben der Stelle, die er verdeckte, den Hamam eingezeichnet. Türkisches Bad stand darüber. Mir kam es so vor, als hätte es zwei Eingänge, den einen an der heutigen Stelle und den anderen, wo es jetzt nur eine fensterlose Mauer gab. Aber vielleicht war das auch nur ein Fleck, der zufällig dorthin geraten war, ein Druckfehler, ein verirrtes Häkchen von einem in der Nähe stehenden Buchstaben in gotischer Schrift. »Der Hamamhat also zwei Eingänge«, sagte ich. Opa Simon zuckte zusammen, sah mich argwöhnisch an und presste dann missbilligend die Lippen zusammen. »Es hat immer nur einen Eingang gegeben«, sagte er. »Dieser Plan ist heimlich angefertigt worden. Möglich, dass er fehlerhaft ist.« Dann faltete er den Plan zusammen – ein wenig hastig, wie mir schien – und brachte ihn in sein Mansardenzimmer.
    ***
    Als ich wieder zur Schule ging, war der Frühling bereits angebrochen. Die noch schwache, fahle Sonne rollte durch die Pappeln, die gerade ihre ersten grünspanfarbigen Blätter austrieben.
    Mittags ging ich vom Gymnasium zu Fuß nach Hause. Mein Weg führte mich am Hamam vorbei. An den Mauern, in denen sich in orientalischen Mustern Ziegel und Bruchsteine miteinander verschränkten, wuchsen die ersten Brennnesseln und glänzten fortgeworfene Töpfe mit

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