Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
Lampenschirm flogen, klang es, als würde jemand auf ein Xylophon schlagen. Und wenn die Tante und der Onkel sich nach dem Essen mit den Gästen unterhielten, die sich Abend für Abend einfanden, gingen wir in den Garten, um den Baum der Nacht zu sehen.
5
Der grünliche Schein eines Glühwürmchens fiel flackernd auf die drei kleinen Hexen. Der Körper des Glühwürmchens war von einem Dorn durchbohrt und steckte in der Rinde des Baumes der Nacht, doch die leuchtenden Adern blinkten immer noch panisch in seinem Laternen-Bauch. Guga hatte spitze Ohren, die an Fledermausohren erinnerten. Sie sagte: »Vielleicht umarmt er sie ja?« Muma hatte kleine Augen mit schweren Lidern, die Krötenaugen ähnelten. Sie sagte: »Vielleicht fasst er ihr an die Brust?« Dschudscha hatte ein Gesicht, das runzlig war wie eine Walnuss. Sie sagte: »Nein, nein, nein, ihr liegt falsch. Es wird etwas ganz anderes passieren. Etwas ganz, ganz anderes.« Und sie lachte mit einem feinen, schrillen Lachen, das wie Mäusequieken klang.
6
Das Wetter war plötzlich umgeschlagen, der Regen durchweichte den Garten, und in den Zimmern wurde es kühl. Die nassen Blätter der Schwarzen Johannisbeere unter dem Fenster rochen nach Stinkwanzen, die abgeblätterten Stellen an den Fensterrahmen breiteten sich aus wie schwarzer Schorf, im Haus roch es nach Schimmel. Die Abende in der Weinlaube waren vorbei, und wenn wir zum Baum der Nacht liefen, mussten wir über Pfützen springen.
Eines Nachmittags kündeten die Tante und der Onkel an, dass sie erst spätabends nach Hause kommen würden. Es regnete weiter, unablässig regnete es, und wenn der Regen einmal für einen Augenblick nachließ, stieg zwischen den Büschen von der Erde weißer Dunst auf und es tropfte von den vollgesogenen Blättern. Wir lagen auf dem Kanapee im Arbeitszimmer des Onkels und blätterten in den großen illustrierten Nachschlagewerken. Um uns herum lagen Nussschalen, Kerngehäuse, aufgeschlagene Bücher mit Bildern aus fernen Ländern. Ich legte mir eine Decke über. »Mir ist kalt«, murmelte meine Cousine Emilia, »oh, wie ist mir kalt. Kann ich zu dir unter die Decke kommen?« Und dann sagte sie: »Wie warm du bist.« Draußen, im nassen Grün, knüpfte die sommerliche Abenddämmerung bereits ihr trügerisches Netz.
7
Die drei kleinen Hexen Guga, Muma und Dschudscha hingen mit ihren spitzen Fingernägeln am Fensterrahmen und verfolgten,was im Zimmer vor sich ging. Ihre Beine waren kurz und reichten nicht bis zur Erde. Hin und wieder schlugen sie damit gegen die Wand, wenn sie versuchten, sich in eine günstigere Position zu bringen. »Sie knöpft ihm die Hose auf«, sagte Muma. »Sie nimmt seinen kleinen Stößel in die Hand«, sagte Guga. »Oh, sie nimmt sein bleiches Stängelchen in den Mund«, sagte Dschudscha. Das Haar klebte den drei kleinen Hexen regennass an den Köpfen und war überpudert mit dem Blütenstaub aus den Kelchen der nassen Lilien.
8
Als es an der Zeit war, wieder nach Hause zu fahren, beluden uns die Tante und der Onkel mit Marmeladengläsern, mit Paketen voller Trockenobst, mit Bündeln von Heilkräutern für Wintertees. Eine Droschke sollte uns zum Bahnhof bringen. Als wir losfuhren, dämmerte es schon. Wir beugten uns über die Seiten und winkten der Tante und dem Onkel zum Abschied. Die beiden standen im Windfang des Hauses mit den grünen Läden und den weißen Fensterrahmen, von denen die Farbe abblätterte. Als die Droschke in die Pappelallee einbog, drehten wir uns noch einmal um, bevor das Haus ganz aus unserem Blickfeld verschwand: Über dem Dach, über dem immer dichter werdenden Grün erhob sich dunkel und geheimnisvoll die gewaltige, üppige Krone des Baumes der Nacht.
All das ist mir noch so lebhaft und farbig im Gedächtnis, als wäre es eben geschehen, denn es ist alles wahr. Und die drei kleinen Hexen? Die habe ich natürlich erfunden, um die Geschichte hübscher zu machen.
9
In den Wurzeln des Baumes der Nacht saßen die drei kleinen Hexen und steckten sich Stücke von den goldgrünen Flügeln eines Laufkäfers, dem sie zuvor den Kopf abgerissen hatten, ins Haar. »Glaubt ihr, dass sie irgendwann wiederkommen?«, fragte Guga und dachte dabei an die Menschenkinder, die an diesem Abend das Haus mit den grünen Fensterläden verlassen hatten. »Nein, sie werden niemals wiederkommen«, sagte Muma. »Niemals, niemals.« »Ja«, sagte Dschudscha, »das stimmt. Sie werden niemals wiederkommen. Aber der Junge wird viele Jahre später
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