Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
Geschichten im Umlauf, man erwähnte es mit vielsagendem Zwinkern und mit anzüglichem Grinsen. Aber es ließ sich nichts Bestimmtes und Handfestes in Erfahrung bringen. Alles blieb im Ungefähren, ging über rätselhafte Anspielungen nicht hinaus. Jedes Gespräch ähnelte bereits vorangegangenen, in denen alles schon gesagt worden war, sodass sich die Gesprächspartner nur noch mittels Andeutungen an das früher Gesagte erinnern mussten. Ging man am Hotel vorüber, war Zweideutiges zu vernehmen, jeder senkte die Stimme und flüsterte nur noch. Und über den Tratschenden erhob sich die graue Schimäre, das merkwürdige, unförmige Hotelgebäude, mit Schmuckwerk überladen wie eine Geburtstagstorte.
Meine Cousine Emilia und ich kamen oft am Hotel vorbei. Wir versuchten dann, hinter das Geheimnis zu dringen, das das Gebäude umgab wie eine nicht bis zum Ende erzählte Geschichte. Wenn wir am Eingang vorbeigingen, verlangsamten wir unsere Schritte, blieben stehen und taten so, als interessiere uns in diesem Moment etwas ganz anderes. Wir schauten zum Himmel: Dort wuchsen schiefe Wolkentürme, flogen Löwenzahnsamen, zog ein Flugzeug vorüber. Im Vestibül hinter der Glastür war nichts zu erkennen außer den glänzenden Messinggriffen und einem roten Fleck – dem Teppich. Es schien uns, als würden wir das Geheimnis niemals ergründen.
Doch plötzlich, in den letzten schönen Herbsttagen, als von den Kastanienbäumen an den Boulevards die glatten und glänzenden Früchte fielen, machte sich bei uns zu Hause Unruhe breit. Ein Brief war eingetroffen: Auf dem Rückweg von einer weiten Reise würde ein entfernter Verwandter mit seiner Kinderschar durch unsere Stadt kommen. Aus irgendeinemGrund wollten alle, dass sie bei uns übernachteten. Es war von irgendwelchen Schulden die Rede, vom Vermögen des Verwandten, von einer Erbschaft. In dem engen Haus wurde es turbulent, ein Familienrat nach dem anderen wurde einberufen, die Nervosität summte wie eine Fliege an der staubigen Fensterscheibe. Schließlich war die Entscheidung gefallen: Opa Simon und ich würden im Hotel übernachten, um den Gästen Platz zu machen.
Abends, als sich die Gäste unter halbherzigem Protest in ihrem Zimmer eingerichtet hatten, machten Opa Simon und ich uns auf den Weg ins Hotel. Opa trug einen kleinen schwarzen Koffer, den er nur zu besonderen Gelegenheiten dabeihatte, was unserer Mission einen nicht alltäglichen Anstrich verlieh. Der Sommer war vorbei, in der Stadt roch es nach geschmorter Paprika, nach Trester und nach gegrillten Maiskolben. Durch das spärlicher gewordene Laub der Bäume blitzten die jäh vergrößerten Sterne und in der immer dünner werdenden Luft hörte man die durchdringenden Töne abendlicher Zurufe und Pfiffe: Die Stadt lebte nun das Leben der ersten Herbstnächte, ein Leben voller Eigentümlichkeiten.
Vor dem schwach beleuchteten Hoteleingang standen zwei Männer. Aufgeregte Stimmen waren zu hören, einer schimpfte, doch dann wurden die Stimmen plötzlich leiser, bis sie schließlich nur noch ein vertrauliches Flüstern waren. Den einen der beiden erkannten wir sofort: Es war der Hotelportier, doch ohne seine übliche Streifenmütze und in einem ärmellosen Hemd. Er nahm von dem anderen eine große Wassermelone entgegen, wobei er irgendetwas zu versprechen und zu bejahen schien. Als wir näherkamen, erkannten wir auch den anderen: Muto, der Stadtverrückte, ein im Müll schlafenderObdachloser, versuchte, dem Portier etwas in seiner stockenden, klebrigen und schlecht durchgekauten Sprache aus unvermittelten Schreien und klanglosem Gemurmel zu sagen. Ich kannte Muto aus den Gruselgeschichten, die an den Abenden erzählt wurden: Die Mädchen hatten furchtbare Angst vor ihm, und meine Cousine Emilia erzählte, dass er ihr einmal stundenlang hinterhergelaufen sei und ihr geifernd seine kehligen Wörter nachgerufen habe, seine verzweifelten Schreie voller Hoffnungslosigkeit. Es war mehr als ungewöhnlich, dass sich ein Hotelportier mit ihm unterhielt – ganz davon zu schweigen, dass er im Austausch gegen wirre Versprechen Geschenke von ihm annahm.
Der Portier spürte, dass er beobachtet wurde, zuckte zusammen und stand einen Augenblick lang unschlüssig da. Opa Simon rief ihn an, der Portier erkannte uns und kam mit der Melone auf den Armen auf uns zu. Doch auf halbem Weg überlegte er es sich anders, kehrte mit offensichtlichem Bedauern um und legte sie dem Stadtstreicher in die Hände. Muto stieß einen seiner
Weitere Kostenlose Bücher