Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
Schatten auf den Fassaden, Gärten voller Pflanzen, deren Blätter glänzten, als wären sie aus Wachs. Es war, als folgte der Kutscher einem geheimen Stadtplan, als wäre er mit ihren verstecktesten Wegführungen vertraut. Er fuhr mit hoher Geschwindigkeit, ohne an Kreuzungen zu zögern, wählte präzise den Abbiegewinkel und vermittelte so den Eindruck, dass er genau wusste, wohin er fuhr.
»Wir sind da«, sagte der Advokat plötzlich und die Droschke kam tatsächlich zum Stehen. Ich sah hinaus: Offenbar waren wir durch enge Seitenstraßen, die ich immer für Sackgassen gehalten hatte, zum Hotel gelangt. Jetzt standen wir vor dem erleuchteten Hoteleingang, und zu meiner großen Verwunderung prangte über dem Eingang noch immer in Leuchtschrift der Namenszug »Hotel Lissabon«. Vielleicht war die Änderung noch nicht in Kraft getreten, oder es handelte sich um die übliche Trägheit, wie immer, wenn in der Stadt etwas verändert werden sollte.
Der Advokat sprang aus der Kutsche, hielt kurz inne und reichte mir dann seine große schwarze Tasche. »Ich bin gleich zurück«, sagte er. »Ich sehe nur einmal nach, ob man noch auf mich wartet.« Dann verschwand er hinter der großen Glastür des Hotels.
Wir warteten. Die Straße war leer, vom Rücken des Pferdes stieg Dampf auf, der Kutscher gähnte. Im Mondlicht erkannte man selbst die kleinsten Details der Verzierungen des Pferdegeschirrs, Lederrosetten, blaue Fayence-Perlen, Pailletten, Glaskügelchen. Ich zählte sie, verzählte mich, begann von Neuem. Meine Cousine Emilia räkelte sich schläfrig. Der Advokat blieb verschwunden: Im Hotel war alles ruhig, außer dem Vestibül waren nur noch zwei Zimmer im ersten Stock erleuchtet. Hin und wieder hörte man von fern ein Geräusch; vielleicht ein Gespräch oder auch nur schlafende Gäste, die im Traum ihre zusammenhanglosen Selbstgespräche führten.
»Wir können nicht die ganze Nacht hier bleiben«, sagte meine Cousine Emilia. »Ich gehe los und suche ihn.« Schon war sie mit der Leichtigkeit einer Schlafwandlerin hinausgesprungen, und während ich noch die Hand ausstreckte undetwas sagen wollte, war sie bereits durch die Eingangstür geschlüpft und im Inneren des Hotels verschwunden.
Die Nacht wurde langsam kälter. Am Himmel wechselten die Sternbilder: Orion fuhr auf seinem Weg quer über den Himmel in seinem Wagen vorbei, vor ihm flohen die Plejaden und ihm auf den Fersen breitete der Skorpion seine Scheren aus. Das Pferd döste bereits, der Kutscher auch.
Ungeduldig und nervös geworden, beschloss ich schließlich ebenfalls hineinzugehen. Ich wollte den Kutscher nicht aufwecken, sonst hätte er sich womöglich aufgeregt, hätte sofort sein Geld verlangt, hätte uns hier stehen lassen. Ich nahm die große schwarze Tasche des Advokaten, öffnete vorsichtig die Hoteltür und stahl mich geräuschlos hinein.
Drinnen schlief hinter dem Empfangstresen der Pförtner, den Kopf auf die mit Zeitungen bedeckte Tischplatte gelegt. Ein Ohr war ans Holz gepresst, als lausche er auf etwas. Entferntes Schnarchen in wechselnder Lautstärke war zu hören: In einem der zahlreichen Zimmer rang ein Schläfer nach Luft.
Mir fielen die beiden erleuchteten Zimmer wieder ein. Vorsichtig, um den Portier nicht aufzuwecken, schlich ich zur Treppe. Der äußere Eindruck vollkommener Stille hatte getrogen, das Hotel war von Lauten erfüllt: Im Schlaf murmelten, stöhnten und seufzten die Gäste. Manche summten fröhlich vor sich hin. Ich tastete mich zu einer Tür vor, hinter der Licht brannte, und klopfte leise an. Es kam keine Antwort. Behutsam öffnete ich die Tür: Es war eine kleine Kammer, sicher eine von denen, die den Zimmermädchen als Schlafzimmer dienten. Darin befand sich eine Unmenge gebügelter und ordentlich aufgestapelter Handtücher. Auf den Stühlen, dem Tisch und dem Fußboden erhoben sich wahre Türmeaus aufgeschüttelten Kissen. Und auf dem Bett lag in einem gewaltigen Haufen Kissen meine Cousine Emilia und schlief. Es war offensichtlich, dass sie auf der Suche nach dem Advokaten hierhergelangt war, der großen Versuchung, die das Bett voller Kissen darstellte, nicht hatte widerstehen können und eingeschlafen war.
Ich wollte das alles endlich zu einem Ende bringen. Ich musste ja nur noch dem Advokaten die Tasche zurückgeben und dann meine Cousine Emilia wecken, damit wir die Droschke nehmen und nach Hause fahren konnten. Fest entschlossen, diese unsinnige Spritztour zu beenden, verließ ich die kleine Kammer und
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