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Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Titel: Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vlada Urosevic
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ging zu der anderen Tür, hinter der Licht zu sehen war. Sie stand halb offen.
    Bevor ich eintrat, spähte ich erst einmal hinein. Es war ein großer Raum voller Spiegel, eine Art Salon, in dem wahrscheinlich Geschäftsverhandlungen, offizielle Abendessen und intime Feierlichkeiten stattfanden. Ganz hinten im Salon saß der Advokat, und ihm gegenüber, in dem riesigen Samtsessel fast versunken, unser Opa Simon. Die beiden waren in ein vertrauliches Gespräch vertieft. Sie lächelten einander zu, tätschelten sich die Knie, zwinkerten und hoben bedeutungsvoll die Brauen. Vor ihnen auf dem Tisch lagen aufgeschlagen schwere Geschäftsbücher, alte, in Leder gebundene Mappen, einzelne Blätter voller Zahlenkolonnen. Darauf standen Gläser, in denen Reste von grünen und rosafarbenen Likören leuchteten. Aus dem Verhalten der beiden ließ sich leicht schließen, dass sie einander schon lange kannten und sich viel zu sagen hatten.
    Plötzlich wurde mir bewusst, dass sich meine Lage jäh verkompliziert hatte. Das Verbot, in die Nachtdroschke zusteigen, die Unmöglichkeit, meine Anwesenheit im Hotel zu dieser nächtlichen Stunde zu erklären, die Gegenwart meiner Cousine Emilia im Nebenzimmer – all das versetzte mich in Panik. Genau in diesem Moment erhob sich der Advokat mit dem seltsamen Namen, klatschte in die Hände und rief: »Meine Tasche!« Niemand antwortete. Nur in einem der benachbarten Zimmer hörte man einen Gast schnarchen, erstaunlich hoch und mit wiederkehrenden Aussetzern.
    »Meine Tasche!«, rief der Advokat noch einmal und näherte sich der Tür. Panisch rannte ich durch den Korridor. In der Tür der kleinen Kammer erschien meine Cousine Emilia, eben erst aufgewacht und noch ganz verschlafen. »Schnell«, sagte ich und zog sie an der Hand hinter mir her. Wir waren schon auf der Treppe, als oben, im dunklen Korridor, der Advokat mit tiefer Stimme zu brüllen begann. Der Schall verstärkte sich noch in den leeren Fluren, durch ihre Windungen gebrochen.
    »Meine Tasche!«, donnerte der Advokat gebieterisch; in den Zimmern wachten die Gäste auf. Jäh aus dem Schlaf gerissen galt ihr erster Gedanke einer Überschwemmung oder einem Erdbeben. »Meine Tasche!«, brüllte der Advokat Antonio Zuzarte da Costa e Silva und weckte damit das ganze Hotel auf. Wir stürzten die Treppe hinunter. »Stehen geblieben!«, rief der Portier uns nach. Ich schlug die Glastür hinter uns zu. In den Zimmern gingen die Lichter an.
    Der Kutscher war wach und erwartete uns schon. Das Pferd stampfte ungeduldig mit den Hufen auf das Pflaster. »Vorwärts«, rief ich, als ich, meine Cousine Emilia mit mir ziehend, in den Sitz fiel, »vorwärts!«
    Darauf schien der Kutscher nur gewartet zu haben. DieDroschke flog förmlich durch die Nacht. Über uns sprühten die Sternbilder auseinander und fügten sich dann wieder zu einem Gebinde. Im Handumdrehen war das aus seiner Ruhe aufgescheuchte Hotel in der Nacht versunken. Die Häuser flogen nur so an uns vorüber, die Schläfer wurden vom Hufgeklapper auf dem Straßenpflaster aus ihrem Schlaf gerissen. Dröhnend und donnernd wie schwere Artillerie stürmte die Droschke voran: In den Häusern, an denen wir vorbeifuhren, träumten die Schläfer von der Explosion, die sich an Bord der Guadalquivir ereignet hatte.
    Wir rasten durch die Stadt, deren Grundriss der Mond verändert hatte. Die Nacht war zu einer großen, unerforschten Gegend geworden, die nur wir durchreisten, die einzigen Zeugen ihrer doppelten Wesenheit. Ihre zwei Ebenen waren fast sichtbar geworden: die eine, übersichtlich und vereinfacht, auf der reglos und versunken die Körper der Schlafenden lagen, und die andere, unendlich verworren und voller Überraschungen, auf der wir uns bewegten.
    »Die Tasche«, sagte meine Cousine Emilia. »Du musst die Tasche loswerden.« Da sah ich, dass ich noch immer die Tasche des Advokaten umklammert hielt. »Schnell«, sagte meine Cousine Emilia. »Wirf sie fort!« Wir fuhren gerade über eine Brücke. Unten schimmerte die grünlich geschuppte Oberfläche des Flusses. Die Tasche beschrieb einen weiten Bogen. Man hörte nicht, wie sie ins Wasser klatschte: Die Brücke dröhnte unter der dahindonnernden Droschke.
    »Schnell«, sagte meine Cousine Emilia. Die Droschke hatte gehalten. Wir standen vor dem Haus, in dem sie wohnte. »Schnell, küss mich«, sagte sie mit verschlafener Stimme und schwang sich mit schon fast geschlossenen Augen aus derDroschke. Im Hof schimmerte noch einige Male der Pelz

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