Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
eine Aufforderung. Opa Simon blies, halb aus dem Fenster der kleinen Kammer unter dem Dach gelehnt und den Kopf vorgereckt wie ein Nackthalshahn, in das große Horn und rief uns.
Jetzt wussten wir wieder, wie wir gehen mussten. Und tatsächlich, schon bald waren die Straßen wieder vertraut. Wir begriffen, dass wir ein paar Durchgänge genommen hatten, die wir normalerweise vermieden, und dabei die ganze Zeit in der Nähe unseres Hauses geblieben waren. Der Klang des Horns drang weiterhin zu uns, immer deutlicher und klarer. Das letzte Stück bis nach Hause rannten wir.
Das Haus war von einem Duft erfüllt, den wir kannten, ein Duft, der sich wie eine klebrige Fliege auf die Nasenspitze setzte und abwartend zaghaft mit den Flügeln schlug. Auf dem Tisch stand ein geöffnetes Paket, aus dem ein Berg Rosinen quoll. Sie hatten die Farbe jungen Bernsteins, die kastaniengoldene Farbe spätherbstlicher Tage. Uns wurde umgehend mitgeteilt, dass ein Freund von Opa Simon sie geschickt hatte. »Aus Smyrna, aus Smyrna«, riefen die Tanten. Sie wiederholtenden Namen der Stadt wie eine geheime Formel, wie ein Schlüsselwort, das das Geheimnis erklärte.
In der Küche kochte die Großmutter Tee aus Rosinen – ein unglaubliches Getränk, das unter Beigabe von Zimt, Honig, Ingwer und Gewürznelken zubereitet wurde. Die süßen Dämpfe zogen sich durchs Haus wie Schneckenspuren. Anhand ihrer Bahnen, die sich durch die Zimmer schlängelten, konnte man die Bewegungen der aufgeregten Tanten und schläfrigen Onkel verfolgen. Einer sagte uns, ein Postbote, der zufällig vorbeigekommen sei, habe das Paket gebracht. Von oben aus seinem Dachkämmerchen kam Opa Simon die wackelige, dunkle Treppe herunter und gab seinen neuesten Kommentar zur Wetterlage, den Bewegungen der Luftströmungen und dem Fallen des atmosphärischen Drucks zum Besten. »Der Nebel draußen riecht nach den orientalischen Zuckerbäckereien Konstantinopels«, sagte er. »Morgen wird es wärmer.«
Wir versuchten zu erzählen, dass wir Muto gesehen hatten, doch niemand schenkte unseren verworrenen Mitteilungen Beachtung. Als wir nicht locker ließen, öffnete eine Tante die Küchentür und schob uns hinein. Eingehüllt in die süßen Dämpfe saß dort der zerlumpte Stadtstreicher Muto und aß Rosinen aus der vollen Hand, als hätte er schon immer hier gesessen.
Duftend und klebrig lastete die Nacht mit dumpfer Seligkeit und sanfter Schläfrigkeit auf dem Haus. Draußen presste der Nebel sein aufgedunsenes Gesicht eines unausgeschlafenen Nachtschwärmers gegen die Fenster. Alle widmeten sich wieder dem Spiel »Mensch ärgere dich nicht«. Mithilfe der alten französischen Karte des Osmanischen Reiches erklärtemir Opa Simon die Veränderungen des Wetters, die Wege der Winde und die Launen des Klimas, bevor er dann wieder nach oben in sein Dachkämmerchen stieg. Ich ging zurück in die Küche.
Noch bevor ich eintrat, hörte ich schon das Kichern meiner Cousine Emilia und die unartikulierten Ausrufe Mutos. Ich öffnete die Tür. Vor meiner Cousine Emilia, deren Wangen sich gerötet hatten und deren weit geöffnete Augen leuchteten, kniete Muto und zog die Überreste seiner Raserei im Laden aus den Taschen und unter den Kleidern hervor: Muschelscherben, zerknitterte Etiketten von Konservendosen, zerrissene Briefmarken, Vogelfedern, tote Feuersalamander. Das waren die armseligen Überbleibsel des wundersamen Schatzes, Bruchstücke von herrlichen Dingen, kaum erkennbare Spuren einer nur flüchtig erspähten Pracht. »Woher hast du das?«, schrie ich. Muto stand auf. Ich streckte die Hände aus. »Gib das her«, sagte ich.
Muto wich zurück, brabbelte etwas Unverständliches und behielt mich mit seinen kleinen Wasserrattenaugen fest im Blick. »Gib her«, sagte ich herrisch und streckte die Hand aus. Er schaute erst mich an, dann meine Cousine Emilia. Einen Moment lang kam es mir so vor, als lächelte sie ihm zu. Doch gleich darauf hatte er sich umgedreht, war mit einem Satz an der Hintertür und dann auch schon auf dem Hof. Ich lief ihm nach. Zu spät. Da rannte er, patschte mit seinen nackten Füßen durch den Schlamm und warf mit winzigen Scherben und kleinen Papierfetzen um sich, ein närrischer Herrscher über unermessliche Schätze. Dann verschwand er mit einem grässlichen Lachen im Nebel.
E IN S CHIFF NAMENS S KOPJE
In Novembernächten sammelt sich über Skopje in dichten Schwaden eine gewaltige, ausgedehnte Schicht lastenden Herbstnebels. Er gleitet durch
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