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Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Titel: Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vlada Urosevic
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die für die Zwecke des Vatikans ausgearbeiteten Karten der Balkanländer, auf denen alle Bezeichnungen auf Lateinisch und die Territorien nach Kirchendiözesen aufgeteilt waren, und Mazedonien-Karten des österreichisch-ungarischen Generalstabs, die nach den zweifelhaften Informationen von Spionen erstellt worden waren. Er maß etwas darauf ab, maß noch einmal nach und murmelte Zahlen vor sich hin, in denen man manchmal Höhen über dem Meeresspiegel und Entfernungen in geografischen, englischen, nautischen und sogar alten römischen Meilen erkennen konnte. Irgendetwas passte nicht und er winkte ab, schnaufte und fuhr sich über die Stirn. Dann blies er in die Hände: Im Dachkämmerchen wurde nicht geheizt und von unten aus der Küche riefen sie unablässig zu ihm hoch, er solle doch endlich ins Warme kommen, um sich nicht zu erkälten.
    »Lasst mich in Frieden«, rief er dann, weil er in seinen Berechnungen gestört worden war und sich gezwungen sah, von vorn zu beginnen. In der Küche tranken die Tanten Tee aus Kirschenstielen und aßen Johannisbeerkompott, während die Onkel unterwegs waren und ihren ausnehmend wichtigen und unverständlichen Angelegenheiten nachgingen. Ich saß und las zum wer weiß wievielten Mal in den gesammelten Werken von Jules Verne mit den roten Einbänden, die mit prachtvollen Goldornamenten verziert waren. Durch die unsichtbaren Straßen drang von fern der Ruf des Schiffes: Sein Klang war näselnd und gedämpft, hob sich aber dennoch ganz deutlich von den anderen Geräuschen ab. Lange wollte sein Widerhall nicht verstummen: Er klang fort und fort, in hartnäckiger und ausdauernder Beharrlichkeit.
    Ich schlug das Buch zu. »Da ist es wieder«, sagte ich.
    »Was?«, fragten die Tanten scheinheilig. »Was denn?«
    »Hört ihr es denn nicht? Es hat doch gerade getutet.«
    »Das war der Wind«, sagte die eine Tante. »Oder ein Zug«, sagte eine andere. »Also, ich habe nichts gehört«, sagte die dritte und nippte an ihrem Tee.
    Die Erwachsenen verhielten sich alle gleich. Sie taten so, als hörten sie nichts, als nähmen sie nichts wahr, als gäbe es kein Tuten, als gäbe es überhaupt kein Schiff.
    Ich lauschte aufmerksam. Unten klopfte jemand am hohen Eingangstor. Er klopfte kaum hörbar, mit letzter Kraft. »Jemand hat geklopft«, sagte ich.
    »Das ist der Wind«, sagte die eine Tante. »Oder ein Zug«, sagte die andere. Ich lief in den Flur, ohne die Küchentür hinter mir zu schließen, durchquerte die ungeheizten Teile des Hauses, rannte über den gepflasterten Hof und öffnete das Tor. Dahinter stand, ganz eingehüllt in die großen Schals des Nebels und blau angelaufen vom Atemhauch der ungesunden Ausdünstungen des Flusses, meine Cousine Emilia.
    »Hast du es gehört?«, fragte sie. Ich nickte. »Es hat hinter unserem Haus getutet«, sagte Emilia. »Ich bin raus, um es zu suchen«, fügte sie hinzu, »aber ich habe mich verlaufen. Ich habe gerade noch euer Haus finden können.«
    Der Nebel drang mit seinen übergroßen Knäueln, seinen Ballen und Bündeln durch das geöffnete Tor in unseren Hof ein, wie eine zudringliche Zigeunerin, die einem ihre Wahrsage- und Handlesedienste aufnötigt. Er drängte sich an uns vorbei, taumelte auf den Hof, ballte sich zusammen, türmte sich auf. Mir kam es so vor, als ob sich der gesamte Nebel der Stadt in unseren Hof ergießen würde, wenn wir auch nureinen Moment länger in der Toröffnung stehen blieben. Also schloss ich das Tor und wir beide liefen in die Küche.
    Die Tanten gerieten in Aufruhr: Sie begannen sofort damit, Emilia aufzuwärmen, ihr Tee anzubieten, sie zu liebkosen und auszufragen. Emilia streichelte mit der einen Hand den Kater Fjodor, in der anderen hielt sie das kleine, aus Silberketten gefertigte Täschchen, das ihr die Tanten geschenkt hatten und das sie nur bei besonderen Gelegenheiten trug. Der Kater Fjodor schnurrte und Emilia, den Mund voller Johannisbeerkompott, ließ sich eine unglaubliche Geschichte einfallen, die die unsinnigsten Gründe enthielt, warum sie das Haus verlassen hatte.
    »Bei so einem Wetter«, empörten sich die Tanten, »wie kann man bei so einem Wetter ein Mädchen allein herumlaufen lassen!« Ihr schriller Tonfall ließ das Gesagte unverständlich werden, der Wasserkessel auf dem Ofen pfiff, die Tassen und Löffel klirrten. Aus seinem Nickerchen auf der Ottomane aufgeweckt hob der riesige Kater Fjodor den Kopf und miaute.
    »Ich muss zurück«, sagte Emilia.
    Die Tanten krakeelten wieder los, alle

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