Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
Gebirgsschluchten, folgt dem Flusslauf, kriecht verstohlen über die Felder, hüllt geräuschlos die Vorstadthäuser ein und ist dann plötzlich in den Straßen: Wie ein feindlicher Eindringling, der die Stadtwachen überlistet hat und unerwartet an unzureichend geschützten Stellen hindurchgeschlüpft ist, späht er um die Ecken, hastet über Kreuzungen und erobert ein Haus nach dem anderen. Der Stadt bleibt keine Zeit, sich zu verteidigen. Wie ein Wächter, in dessen Rücken sich jemand angeschlichen hat und ihm plötzlich die Hand auf den Mund legt, bekommt sie keine Luft mehr, macht noch ein paar kaum wahrnehmbare Bewegungen und fällt dann in Ohnmacht. Ein Moment der Unaufmerksamkeit und schon hat sich der Nebel über alles gelegt – es sind keine Mauern mehr da, das ganze Haus ist verschwunden, und vom erleuchteten Fenster bleibt nur ein undeutlicher Lichtfleck zwischen Himmel und Erde zurück, um den sich in gewaltigen Wirbeln schwere Wollfäden wickeln.
An solchen Abenden verlaufen sich auch alteingesesseneEinwohner Skopjes ganz leicht. Eigentlich sind sie zum Bahnhof unterwegs, finden sich aber unverhofft vor dem Parkeingang wieder; sie stoßen gegen die Kaimauern am Vardar, die sich ihnen wer weiß wie in den Weg gestellt haben, und irren, während sie sich an den Häuserwänden entlangtasten, durch unbekannte Straßen, die sie nie zuvor gesehen haben. Selbst das eigene Haus ist nur schwer wiederzufinden; es hat sich ebenfalls verändert, das Hoftor scheint irgendwo anders hin zu führen, und erst die Haustür verleiht wieder Sicherheit: Endlich sind wir dem feuchten Chaos entronnen und zurück in der beruhigenden Sicherheit klar zu erkennender Gegenstände.
Bisweilen konnte man an solchen Abenden das Schiff hören. Sein Tuten drang durch die dichten Nebelschwaden, zog durch die dunklen, schon nicht mehr existenten Straßen und erscholl dann auf einmal ganz nah, als läge das Schiff gleich hinter der nächsten Häuserzeile.
Die Schiffssirene klang heiser, vom Nebel leicht gedämpft, aber dennoch deutlich. Das Schiff suchte seinen Weg, kündigte sich an, fragte und lockte. Es tutete ungeduldig und ausdauernd: Durch den endlosen, unfassbaren Raum voll undurchdringlichen Nebels sandte seine Sirene ihren Ruf aus, forderte eine Erwiderung. Ihr langgezogener, voller Klang wanderte über die feuchten Dächer. Darin echoten Stimmen aus fernen Landstrichen, Atemzüge aus anderen Breiten und das Wellenrauschen behäbiger Meere. Die Stadt, in den Wogen des Nebels versunken, lauschte atemlos, und die nur erahnten Bedeutungen, die unter dem scheinbar plumpen und schlichten Tuten aufzitterten, ließen sie schaudern. Die Nacht färbte den Nebel lila, blau wie Tinte, dunkelviolettwie Innereien; der Klang dröhnte wie ein dringlicher Aufruf über der Stadt, bald näher, bald weiter entfernt.
Ich weiß nicht, ob es euch bewusst ist: Skopje ist eine Stadt, die man nur über Gebirgsstraßen erreichen kann. Das Meer ist weit entfernt; vom Drin-Golf sind es quer durch die albanischen Berge achtzig Seemeilen Luftlinie, gute hundertzehn vom Golf von Thessaloniki. Der Vardar ist ein Fluss, der im Sommer nur wenig Wasser führt und über den niemals auch nur ein Kahn nach Skopje gelangt ist. Und dennoch lässt sich manchmal in der Stadt das Tuten eines Schiffs vernehmen, jeder Einwohner hat seine Stimme mindestens einmal im Leben gehört. Das ist jener tiefe, langgezogene Ton, der in Novembernächten über dem alten Basarviertel und den ehemaligen Lagerhäusern für Kolonialwaren in der Bahnhofsstraße zu hören ist, der aber auch weit darüber hinaus trägt und Erregung und Unruhe in die vom Nebel eingehüllten Häuser bringt.
Wenn Opa Simon in solchen Nächten den fernen Klang vernahm, der oft unter den anderen Geräuschen der Stadt verschwand und dann wieder ganz klar und deutlich erschallte, rollte er die alten Seekarten der Mittelmeerregion auf, die über und über bedeckt waren mit Zeichen, die die Meeresströmungen markierten, mit Namen von Häfen und den gepunkteten Linien der Schifffahrtsrouten; er entfaltete die Karten des Türkischen Reichs, die auf dem Kopf standen, da sich der Süden mit den heiligen Stätten des Islam an der Oberseite befand, und die in Frankreich herausgegebenen Karten der Balkanhalbinsel, auf denen Mazedonien, Albanien und Griechenland zum Nahen Osten gezählt wurden. Da waren auch die trügerischen, ungenauen und längst hinfälligenLügenkarten von Bulgarien nach dem Frieden von San Stefano,
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