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Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Titel: Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vlada Urosevic
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uns nicht getäuscht: Im Laden stand Muto, der zornige Stadtstreicher, ein aus dem Reich der Sprache verbannter Irrer, ein verlorener Sohn, der zurückgekehrt ist, um sich an denen zu rächen, die ihn fortgejagt haben. Er befand sich inmitten des herrlichen Durcheinanders der wundersamen Waren und vernichtete sie in einem gewaltigen Zornesausbruch. Der alte Verkäufer stand in der Ecke und hieltsich die Augen zu. Es schien, als hätte Muto eine unsichtbare Macht über ihn, als wäre er sein Gebieter. Er ging von Regal zu Regal, fegte die kleinen, zerbrechlichen Gegenstände herunter und trampelte darauf herum. Er war wie ein vertriebener König, der nach einem missglückten Umsturzversuch zurückgekehrt ist, um die Aufständischen zu bestrafen; ein Herrscher, der durch Zerstörung seine grenzenlose Macht zur Schau stellt. Wir pressten unsere Gesichter an die Scheibe und beobachteten diese fürchterliche Szene unverständlicher Bestrafung. Plötzlich schien uns der stumme Stadtstreicher entdeckt zu haben. Er streckte die Arme nach uns aus, riss die Augen auf und schrie. Wir lösten uns vom Schaufenster und tauchten in den Nebel ein.
    Es dauerte ziemlich lange, bis wir die Post wiedergefunden hatten. Dort war jetzt nicht einmal mehr die alte Beamtin zu sehen. Hinter dem Schalter lag nur noch ihr schwarzer Schal. Weder das Paket noch die Benachrichtigung waren da. Wir standen im Halbdunkel und sahen uns an. »Hör mal«, sagte meine Cousine Emilia und hob den Zeigefinger. Wir verharrten still und hielten den Atem an. Im Gebäudeinneren hörte man ein unbestimmtes Geräusch, ferne Stimmen, ein Brummen. Meine Cousine Emilia öffnete die Tür: Wir gingen durch einen langen Korridor, bogen einige Male ab und kamen durch ein paar leere und verlassene Räume. Nach und nach wurde die Innenausstattung auffallender, in den Korridoren lagen immer mehr Teppiche. Der Charakter des Gebäudes veränderte sich. Deutlich waren Stimmen zu vernehmen. Doch erst als wir in einen großen, strahlend hell erleuchteten Saal kamen, begriffen wir, dass wir uns im Hotel Lissabon befanden. Es war offensichtlich, dass es aufgrundeiner verrückten Idee des Architekten oder wegen einer seiner zahlreichen Umbauten mit dem Postamt verbunden war, obwohl man das aus dem Äußeren der beiden Gebäude niemals hätte schließen können.
    Da wir nun schon einmal dort waren, war es unsere größte Sorge, unbemerkt zu bleiben. Doch als wir durch die erleuchteten Korridore und Frühstückssäle eilten und uns hinter den großen Blättern der exotischen Pflanzen versteckten, die im warmen Klima des Hotels außergewöhnlich üppig gediehen, stieß mich meine Cousine Emilia leicht mit dem Ellenbogen in die Seite und deutete wortlos auf etwas.
    Da hinten, im Schatten der großen Philodendren und Ficusbäume, saßen unter den glatten Blättern der tropischen Pflanzen der Stadtstreicher Muto und der alte Verkäufer. Beide waren vergnügt; der Verkäufer auf eine gekünstelte Art, geradezu unterwürfig, Muto hingegen voller Selbstvertrauen und Energie. Sie feierten irgendetwas: Vor ihnen standen bereits mehrere leere Likörgläser, und Muto gab gerade mit der Geste eines Menschen, der seinen Wert kennt, eine weitere Bestellung auf. Dabei lächelten sie einander ölig an, wie Leute, die begriffen haben, dass sie voneinander abhängig sind. In ihrem Verhalten lag etwas Schmieriges, Beschämendes. Der Verkäufer streckte seine zitternden Hände nach Muto aus und streichelte ihn. Wir flüchteten uns vor diesem aberwitzigen Anblick hinter einen roten Samtvorhang.
    Als wir aus dem Hotel kamen und den Weg nach Hause abkürzen wollten, gerieten wir in ein uns völlig unbekanntes Viertel. Die dunkelbraun gestrichenen Haustüren waren verschlossen, aus den Häusern drang kein Laut. Über den Eingängen gab es undeutliche Verzierungen, nicht zu Ende geführteZeichen, übertrieben verschnörkelte Initialen. Nichts davon kam uns bekannt vor. Und so waren wir überzeugt, nie zuvor in diese Straßen gelangt, niemals an diesen Häusern vorbeigekommen zu sein. Es war ein völlig unbekannter Stadtteil.
    Verstört von den unglaublichen Dingen, die wir erlebt hatten, und zitternd vor Kälte liefen wir durch den Nebel. Wir sprachen nicht. Alles war so vollkommen unerwartet geschehen, war so rätselhaft und unbegreiflich. Wir fühlten uns verloren.
    Da drang von irgendwo hinter den Hausdächern durch den Nebel der Klang des Horns zu uns. Wir empfanden ihn wie einen Aufruf, eine Warnung,

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