Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
Darüber stand in der Benachrichtigung nämlich kein Wort. Nach ausführlichen Beratungen und dem Austausch bedeutungsvoller Blicke wurde der Entschluss gefasst, dass wir, meine Cousine Emilia und ich, das Paket abholen sollten. Wir wurden in Schals eingewickelt, mit Hinweisen zur Orientierung versehen und zur Tür gebracht. »Geht immer an den Mauern entlang«, rief uns Opa Simon nach. Dann verschluckte der Nebel alles hinter uns Liegende.
Der Nebel lag über der Stadt wie ein betäubendes, mit Chloroform getränktes Tuch über dem Gesicht eines Kranken. Das Tageslicht war bereits geschwunden, doch inmitten des Nebels war noch eine milchige, aufgedunsene und schleimige Helligkeit zurückgeblieben, die dem Nebel selbst zu entstammen schien. Sie verlieh unseren Gesichtern soforteine ungesunde Blässe. Wir schauten uns an und versuchten zu lachen: Unser Gelächter hallte dumpf, ohne Nachklang, verzerrt, und wir ließen es bleiben. Um uns herum ging der Nebel dank irgendeines ihm innewohnenden Triebmittels auf wie ein Hefeteig, den die Hausfrau vergessen hat und der nun unaufhaltsam über die Ränder der Schüssel quillt.
Anhand der verschwommenen, gelblichen Kleckse, die durch den Nebel drangen – so wie Flecken von früheren Mahlzeiten durch das Weiß des Tischtuchs dringen –, erahnten wir die erleuchteten Zimmer in den Häusern. Dort drinnen spielten sich irgendwelche langsamen, geräuschlosen Geschehnisse ab. Wie große Nachtfalter flatterten die Schatten unsichtbarer Menschen von einer Seite des Zimmers zur anderen, Arme hoben sich wie Flügel, aus den Köpfen wuchsen Fühler. Der Nebel dämpfte die Geräusche. Alles hatte sich in ein Drama ohne Worte verwandelt, voll verwirrender Verwicklungen und vager Gesten.
Auf dem Postamt schien niemand zu sein. Die Marmorplatten der Schalter glänzten matt im kalten Halbdunkel. Auf den Tischen lagen Listen mit Städtenamen herum, die große verzierte Kasse stand halb offen. Wir waren vor der eindrucksvollen kolorierten Weltkarte stehen geblieben, auf der die wichtigsten Routen des Postverkehrs eingezeichnet waren und konzentrische Kreise die Tarifzonen für Postdienstleistungen markierten, und horchten. »Guten Abend«, sagte die betagte Beamtin, die hinter dem Schalter saß und die wir – wahrscheinlich wegen des Halbdunkels – bisher nicht bemerkt hatten. »Ihr kommt sicher, um das Paket für euren Großvater abzuholen?«
Wir nickten. Sie nahm die Benachrichtigung entgegen,musterte sie aufmerksam, blätterte in ein paar alten Handbüchern über internationalen Verkehr und Posttarife und sagte dann, sie werde das Paket sofort heraussuchen, wir würden ihr aber einen großen Gefallen tun, wenn wir zu einem Geschäft ganz in der Nähe gehen und ihr eine Stange rotes Wachs kaufen könnten. Ihren Erklärungen zufolge war das Geschäft nur ein paar Straßen entfernt und wir würden es mühelos finden.
Und tatsächlich, trotz des immer dichter werdenden Nebels entdeckten wir das Geschäft recht schnell. Das schmale Haus stand etwas zurückgesetzt zwischen zwei größeren Häusern, hatte nur ein ganz kleines Schaufenster und war als einziges in der Straße erleuchtet. Von außen sah es aus wie eine gewöhnliche Losbude oder eine Reparaturwerkstatt für Füllfederhalter, wie man sie in den entlegeneren Straßen der Stadt manchmal noch fand. Doch als wir eintraten, sahen wir, dass es sich um etwas völlig anderes handelte. Es war eine Mischung aus Antiquitätenhandel und Krimskramsladen, aus Kommissionshandlung und Privatsammlung, die aus Platznot in einem durch ein Schaufenster zur Straße hin geöffneten Raum untergebracht war. Über den ungeordnet herumliegenden Waren schwebte der Sammler und Verkäufer, ein hochgewachsener und vogelartiger Greis mit Brille, der mit seinen langen Fingern wirkte wie der virtuose Spieler irgendeines komplizierten Instruments. In den Regalen standen ausgestopfte Vögel, Hirschgeweihe und sogar präparierte Fische, glänzend von dem Lack, mit dem sie überzogen waren. Dazwischen befand sich ein Einmachglas mit Wasser, in dem kleine schwarze Feuersalamander voller gelber Punkte überraschend lebhaft umherschwammen. Und nebengewöhnlichen Dingen wie Pfeifentabakspäckchen und Stangen roten Wachses lagen in den Regalen seltsame Gegenstände, die eigentlich längst aus dem Gebrauch gekommen waren: glänzende Kolophoniumstücke und matte Kampferkörner, die Wurzel der indischen Ingwerpflanze und die Rinde des brasilianischen Pernambukbaums,
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