Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
Verlassenheit. Es war das erste Mal, dass wir seine Räume während der Sommerferien betraten, und dieses Eindringen hatte etwas Unrechtmäßiges, Ungehöriges, Verbotenes an sich. Wir stiegen die Treppen zum zweiten Stock empor und gingen den Korridor entlang. Um uns herum lastete dichte Stille. Vom anderen Ende des Korridors her schwebte uns gemächlich ein großer Löwenzahnsamen entgegen, getragen von einem kaum spürbaren Lufthauch. Auf seinem Weg zu uns wiegte er sich beinahe unsichtbar in den feinen Luftströmungen und war mal hell, mal dunkel, je nach dem Licht, das durch die Fenster auf ihn fiel. Als er uns erreichte, bückte sich meine Cousine Emilia, um ihn in seinem Flug nicht zu behindern. Dadurch versetzte sie die Luftschichten in Unruhe und das Schirmchen sackte ab, setzte dann aber seinen Flug zumanderen Ende des Korridors fort, einem nur ihm bekannten Ziel entgegen.
Die Klassenzimmer standen offen. Auf den Bänken hatte sich Staub abgesetzt, auf dem Boden lag Papier herum, an den Tafeln standen Überreste vergangener Lektionen: Spuren von Buchstaben und Zahlen, die unverständlich geworden waren.
Als wir an der offenen Tür des Lehrerzimmers vorbeigingen, klingelte das Telefon. Wir erstarrten. Die Stille, die darauf folgte, schloss sich wie eine Glasglocke um uns. Dann klingelte das Telefon noch einmal; schrill hallte das Klingeln durch den Korridor. Ich stürzte hin und hob den Hörer ab. »Ja«, sagte ich. »Ist da das Gymnasium?«, hörte ich Opa Simons Stimme, als käme sie aus ungeheurer Entfernung. »Ja«, antwortete ich und versuchte, meiner Stimme Gewicht zu verleihen. Opa Simon hüstelte, zögerte. Er schien Argwohn zu hegen. »Hören Sie«, sagte er, »das ist sehr wichtig. Sagen Sie den Lehrern, dass das Barometer fällt.« Dann gab es noch einen kurzen Augenblick des Zögerns. »Das ist sehr wichtig«, wiederholte er. »Sagen Sie es ihnen unbedingt.« »Ja«, sagte ich. »Ja, natürlich.« Danach legte Opa Simon langsam auf.
»Wer war das?«, flüsterte meine Cousine Emilia. »Opa Simon«, sagte ich. »Er teilt der ganzen Stadt mit, dass das Barometer fällt.« Meine Cousine Emilia blickte mich verständnislos an. »Er verlangt von uns, den Lehrern zu sagen, dass das Barometer fällt«, erklärte ich ihr.
Mit einer Bewegung ihres Fingers gab sie mir zu verstehen, dass in seinem Kopf nicht alles in Ordnung sei. Ich nickte zustimmend. Schließlich kamen wir zur Tür der Aula. Dahinter waren gedämpfte Stimmen zu hören, Flüstern, Geräusche.Wir horchten: Es war jemand drinnen, aber wer das war und was dort vor sich ging, war unklar. Wir standen einen Augenblick lang unschlüssig da, dann gab ich Emilia ein Zeichen.
Wir bogen in den Korridor, stiegen die Seitentreppe hoch und öffneten so leise wie möglich die Tür zur kleinen Galerie, die auf die Aula hinausging.
Unten, unter uns, saßen inmitten von Apparaten, die aus dem Physikraum hierhergeschleppt worden waren, Muto, der taubstumme, verrückte Stadtstreicher, und Fatima, die junge Frau des Pedells Memed. Sie drehten die Kurbel der Influenzmaschine von Wimshurst und stießen kleine Freudenschreie aus, wenn zwischen den einander angenäherten Kügelchen elektrische Funken aufblitzten.
Memed, der Pedell, war so alt wie das Gymnasium selbst. Er war eine Kapazität in Heizungs- und Beleuchtungsfragen und Gebieter über die Zigeunerinnen, die nach dem Unterricht die Klassenzimmer reinigten. Aus ihren Reihen hatte er Fatima ausgewählt, die viel jünger war als er. Sie war häufiger Gegenstand unserer erotischen Träume: Wir erzählten uns schlüpfrige Geschichten über sie, pfiffen ihr auf den Fluren hinterher und fanden genau dann etwas unten im Hof zu tun, wenn sie die Fenster des Lehrerzimmers putzte. Muto, dieser harmlose Geistesschwache, lungerte manchmal am Gymnasium herum; er half Memed dabei, Kohle in den Keller zu schaffen und den Garten umzugraben. Wenn er Fatima sah, stieß er tief empfundene Ausrufe der Wonne und der Erregung hervor. Ob sie sich an diesem Nachmittag zufällig hier getroffen hatten? Oder ob sie in den Sommermonaten, wenn sonst niemand im Gymnasium war, ständige Besucher der Aula waren? Was wohl Memed von diesen Zusammenkünftenhielt? Oben auf der Galerie suchten wir vergeblich nach Antworten auf diese Fragen.
Vor einige der großen Saalfenster waren dunkle Vorhänge gezogen, wie üblicherweise bei Filmvorführungen; durch die anderen sah man, wie große schwarze Wolken am Himmel aufzogen. Im Saal
Weitere Kostenlose Bücher