Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
Cousine Emilia und ich blieben angesichts dieses Schauspiels verblüfft stehen, als sähen wir es zum ersten Mal. Es war unglaublich, dass all dies existierte, obwohl doch unsere Gedanken ganz woanders waren.
»Los«, Emilia zog mich am Ärmel, während ich nochdastand und das Gymnasium angaffte wie eine Erscheinung. »Komm, wir müssen uns beeilen.«
Eben noch hatten wir im großen Zimmer gesessen, in dem sich die Verwandten bei einer der Zusammenkünfte aller Familienmitglieder drängten. Die Onkel hatten gerade einen ausgedehnten Nachmittagsschlaf hinter sich und gähnten, während die Tanten Schnittmuster für Sommerkleider betrachteten und wir Limonade tranken. Schwüle hing in der Luft, die Fliegen bissen. Meine Cousine Emilia und ich wollten gerade eine Partie »Mensch ärgere dich nicht« beginnen, als Opa Simon ganz verschwitzt aus seinem Kämmerchen in der Mansarde herunterkam und in gewichtigem Tonfall, als verkünde er einen Kriegsausbruch, hervorstieß: »Das Barometer fällt.«
Dieser Satz, den wir so oft in den Abenteuerromanen über das Leben auf See gelesen hatten, hallte seltsam und bedrohlich wider in der entspannten und schläfrigen Atmosphäre, die in unserem Haus herrschte. Die Köpfe hoben sich. »In Kürze wird ein Gewittersturm aus Richtung Südwest-West eintreffen«, erklärte Opa Simon fachmännisch.
»Ojemine«, schrie Tante Eleonora auf, »meine Fenster! Wenn ein starker Wind weht, gehen sie kaputt! Ich habe vergessen, sie zuzumachen. Alle habe ich offen gelassen«, erklärte sie, »damit es wenigstens ein bisschen Durchzug gibt.«
Der Familienrat prüfte kurz sämtliche Möglichkeiten. Die am leichtesten umzusetzende wurde gewählt: Meine Cousine und ich sollten auf dem kürzesten Weg zum Haus der Tante gehen, die Fenster schließen und möglichst vor Ausbruch des Gewitters wieder nach Hause kommen.
Und so führte uns unser Weg durch die warmen und verschlafenenSträßchen, entlang der um Wasser flehenden Gärten und über die Brachen, auf denen räudige Hunde umherstreiften, vor das Gymnasium. Wir gingen um das Gebäude herum, kletterten den Abhang voller Dornengestrüpp hinunter, scheuchten einen Schwarm Spatzen auf, die ein Staubbad nahmen, rochen die entfernten Metzgereien, in denen sich über dem verdorbenen Fleisch Fliegen sammelten. Dann standen wir vor Tante Eleonoras Haus, stiegen die Treppe hoch, schlossen auf, traten ein und – fanden dort kein einziges offenes Fenster vor. »Uff«, sagte Emilia, »sie hat nicht vergessen, die Fenster zuzumachen, sondern hat vergessen, dass sie sie zugemacht hat.« Tante Eleonora war für ihre Zerstreutheit und Vergesslichkeit bekannt.
Mit großen Löffeln bedienten wir uns aus den Gläsern mit Walderdbeermarmelade, die im Küchenschrank standen; ich versuchte, Emilia auf den klebrigen Mund zu küssen, doch sie drehte sich weg und entwand sich mir. Nur ihr fliegendes Haar kitzelte mich an der Nase.
Ich ging erneut mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Mit halbgeschlossenen Augen schüttelte sie abweisend den Kopf. »Wir müssen uns beeilen«, sagte sie. Vergeblich versuchte ich, sie dazu zu überreden, in der Bibliothek der Tante die Romane von Paul de Kock und Pitigrilli anzuschauen, deren Seiten vom vielen Umblättern schon ganz abgegriffen waren. »Sei doch vernünftig«, sagte sie, »sie warten sicher schon auf uns.«
Auf dem Rückweg kamen wir wieder am Gymnasium vorbei. Die Luft war schwer geworden, gesättigt mit Gerüchen, beinah süß. Über der Matka-Schlucht erhob sich wie eine indische Pagode eine schwarze Wolke mit unzähligen Stockwerken.Wir hätten unseren Weg fortgesetzt, wenn meine Cousine Emilia nicht gesagt hätte: »Da ist jemand im Gymnasium.«
Und tatsächlich, im Gegensatz zu den anderen Fenstern, hinter denen schichtweise abgestandene Dunkelheit lagerte, blitzte hinter den großen Fenstern der Aula im zweiten Stock etwas auf. Durch den Saal liefen blaue Reflexe, tanzten kleine Flammen, bewegten sich Schatten. »He«, sagte meine Cousine Emilia, »da geht irgendetwas vor sich.«
Wir wussten selbst nicht, was wir drinnen eigentlich vorzufinden hofften, doch da waren wir schon auf dem Treppenaufgang. Die Tür stand halb offen: Sommerwinde hatten ein vergilbtes und zerknittertes Zeitungsblatt hineingeweht, eine graue Taubenfeder, Sonnenblumenkerne, tote Nachtfalter, eine ausgebleichte Briefmarke. Als wir eintraten, knirschte es unter unseren Schritten.
Das Gymnasium vermittelte den Eindruck völliger
Weitere Kostenlose Bücher